: Die Kampfsportler auf Erden
■ Beim Shakespeare-Festival am Leibnizplatz: Das Gran Circo Teatro mit einem wunderbaren „Ricardo II.“
Herrschaftzeiten, das ist aber einmal ein Volxtheater! Da rasen die Rebellen und schäumen die Intriganten, da wirbelt das Leben in frev'ler Rasanz! Das Gran Circo Teatro hat sich seinen Shakespeare hergenommen, daß man das Weiße im Auge des Dichters sieht: Was ist schon ein Drama, wenn nicht Kampf? Wie soll man's groß aufführen, wenn nicht austragen?
Ja, die Chilenen gehen in dieser Königstragödie anders zur Sache als die Umstandskrämer des deutschen Stadttheaters, allwo in den Schauspielern die Gefühle erst ihre Verhältnisse diskutieren müssen, ehe sie erscheinen. Hier aber stürzen die Verzweifelten geradenwegs zu Boden und reißen sich die Seele auf; und wenn sie ganz am Ende sind, haben sie immer noch die Kraft, zum Himmel zu schreien, daß die Stellwände wackeln.
„Ricardo II.“, das ist eigentlich ein seltsames Spiel um einen König, welcher vor Schwachheit und Prunksucht sehr malerisch dahinsinkt, bis es dem Arm der Geschichte zu bunt wird: Mehrere Empörer in wechselnden Koalitionen wenden sich gegen Richard und bei der Gelegenheit auch schon mal gegeneinander; des schwachen Königs Größe ist, daß er sich nicht wehrt, und am Ende ist diese Ergebung das einzig Majestätische im ganzen Getümmel gewesen.
Am Mittwoch im Theater am Leibnizplatz sah man von Schwäche nicht viel; sie ist wohl den Kraftmenschen des Teatro nicht gegeben. Vielmehr sah man ein Ineinanderkrachen von Gewalten, sah man Kämpfer und Tänzer, die bereit waren, es mit diesen Shakespeareschicksalen aufzunehmen als ernstzunehmende Athleten.
Und wirklich: Die Mittel, die dem Teatro zur Kraftentfaltung eignen, sind enorm. Seine Schauspieler sind mit ballettöser Eleganz gesegnet und doch die vehementesten Kampfsportler, die man sich denken kann. Die Techniken haben sie, als wahre Internationalisten, von allen Kampfsportlervölkern der Erde: Sie galoppieren um die Bühne wie Komantschen um die Wagenburg; von den Samurai kommt das Lauern auf dem Sprung und von den Italienern schließlich das melodramatische Wortgefecht der Großen Oper. Letzteres kann aber auch ein wenig an den überaus prunkvollen Kostümen von bis zu 40 Kilo Gewicht liegen, unter denen man evtl. brüllen muß, um nicht zu japsen. Ach von wegen Sprache! So kraftvoll reden, klagen, lärmen diese Leut umeinander, daß es einem direkt in die Beine geht; ja diese Sprache ist tanzbar!
Wer auch noch was verstehen will und kein Spanisch kann, sollte sich das Stück schon vorher durchlesen, aber es geht auch ohne Text. Man sieht ja alles. Das Gran Circo Teatro haßt die Andeutung, den Hintersinn und die Metaphysik; es liebt umso glühender die Physik und die Aktion. Jeden Seelenzustand der Shakespearewelt zerlegt es in tausend Handlungen, die einander aufs Heftigste hervorbringen, durchkreuzen oder ins Gegenteil übersetzen; und aus all dem tänzerischen Gerangel auf der Bühne entsteht keine Ursache, die nicht irgendwo wieder ihre Wirkung täte: Einem bricht die Wut aus, der zweite schnellt empor, der dritte weicht zurück, und wenn noch Energie übrig ist, treibt sie den vierten in den Hintergrund.
Es hat etwas ungemein Tröstliches, wenn man auch auf der Bühne einmal den Energieerhaltungssatz der Physik walten sieht. Ein Menschenhäufchen, dem keine Kraft verloren geht; wo es ausgeschlossen ist, daß einer brüllt und die andern sitzen bloß dumm herum; wo alles seinen Sinn in einer Antwort findet: Das ist der belebende Traum vom Kollektiv und seiner Einheit, wie es sich einmal herausbilden wird, wenn das Shakespearesche Zeitalter beginnt.
Das Teatro hat jedenfalls auf seine Weise schon einmal, zu unserer Ermutigung, eine Art Kinetik des Sozialen geschaffen. Manchmal schaut es ein bißchen gar zu ingenieurshaft aus, so ausgetüftelt übertragen sich die Kräfte ineinander. Fast meint man dann, viele kleine Rädchen zu sehen und Pleuelstangen. Aber gleich entschädigt einen auch wieder der Spielwitz, den das Teatro aus seinem Drama alleweil herauskitzelt. Prächtig zum Beispiel, wie die Sportler quasi hoch zu Roß auf der Bühne herumfuhrwerken: Die Oberhälfte hält sich wacker im Sattel, die Unterhälfte trabt kentaurenhaft ihres Weges und scharrt, sobald das ganze Mannsbild steht, mit den Hufen, wie's die Vollblütler halt brauchen.
Ein großes Vergnügen und, wenn man die Texte versteht, womöglich geradezu eine Wucht. Weiter nicht viel als eben Shakespeare. Denkanstöße sind gottlob nicht eingebaut worden; und überhaupt ist das natürlich so gar kein Theater, welches man ordnungsgemäß „irritiert“ verlassen könnte. Im Gegenteil, dieses Teatro der Kampfsportler dient ungeniert unserer Kräftigung. Manfred Dworschak
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