■ Die Jugend ist politikverdrossen, die Gesellschaft jugendverdrossen. Und den Kids fehlt, was sie brauchen: Aufmerksamkeit. Oder vielmehr: Respekt!
Wie ein Refrain zieht sich das Wort durch den Sprechgesang der aus nordamerikanischen Ghettos kommenden HipHop-Musik: Respect! Auch hierzulande ist es ein Schlüsselwort der Jugendkultur geworden. Das Wort hat nichts mehr zu tun mit seiner autoritären Bedeutung, die bei der Rede von „Respektsperson“ mitklingt. Es geht den Kindern und Jugendlichen kaum noch um Autoritätskonflikte. Der neue Mangel ist einer an Aufmerksamkeit und an Resonanz. Vor allem in den Subkulturen der Kinder aus Einwandererfamilien bedeutet Respekt: Achtung, wir sind auch da! Seht uns an! Wir verlangen ein Mindestmaß an Anerkennung.
Dieser Wunsch treibt derzeit viele nach rechts. Erst die DVU- Erfolge bei 30 Prozent der Jungwähler in Sachsen-Anhalt und nun eine Berliner Studie, derzufolge im Osten der Stadt jeder dritte Lehrling rechtsradikal wählen will. Von den Oberschülern der 9. bis 12. Klasse in Ostberlin stufen sich 41 Prozent als Nichtwähler ein. Diesen Signalen von Politikverdrossenheit bei Jugendlichen entspricht die Jugendverdrossenheit der Gesellschaft.
Als sich kürzlich einige Sozialwissenschaftler mit acht Thesen für eine neue Bildungs- und Jugendpolitik an die Öffentlichkeit wandten, wurde der Aufruf von Pfeiffer, Heitmeyer, Baethge, Hurrelmann, Zinnecker und anderen Professoren nahezu ignoriert. Der Jugendsoziologe Roland Eckert, der die Initiative koordiniert, wandte sich bei der Präsentation im Bonner Wissenschaftszentrum flehend an eine Handvoll Journalisten: „Wir brauchen nicht mehr Forschungsgelder. Wir brauchen nicht noch mehr Erkenntnisse über die Schwierigkeiten der Jugendlichen. Wir brauchen die Hilfe der Medien, um dieses Thema auf die Tagesordnung zu bringen.“
Denn gleich neben den High- Tech-Metropolen wachsen in dem Land, dem gerade wieder drei Prozent Wirtschaftswachstum prognostiziert wurden, Slums einer Vierten Welt heran. Jugendliche aus den unteren 20 Prozent werden an den Rand, wenn nicht aus der Gesellschaft herausgedrängt. Stehen uns US-Verhältnisse bevor? Dort sitzen zwei Prozent der männlichen Bevölkerung ein, in Deutschland sind es 0,2 Prozent. Von den Männern zwischen 18 und 30 sind in den USA vier Prozent, von den schwarzen jungen Männern sogar zehn Prozent im Knast. Sie gelten nicht als arbeitslos. Seit Anfang der 90er verbucht die deutsche Industrie Berufsausbildung unter dem Druck globaler Konkurrenz als Kostenfaktor und nicht mehr als Investition. Das hat zu einem dramatischen Rückgang an Ausbildungsplätzen geführt. Nach der Schule verliert ein Teil der Jugendlichen den Anschluß. In Frankfurt am Main zum Beispiel ist von den ausländischen Jugendlichen nur noch ein Drittel in Ausbildung. Ein Drittel wird in Warteschleifen geparkt, und ein Drittel ist aus den Statistiken verschwunden. Das rechnete der Bielefelder Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer vor und fügt hinzu: „Es fehlt uns Geld, mehr aber noch fehlen uns Ideen.“
Es wird Zeit, sich zu erinnern, daß Politik im Kern Herstellen von Öffentlichkeit ist. Ohne immer wieder die menschlichen Zwischenräume zu resonanzstarken Feldern aufzuladen, in denen der einzelne Aufmerksamkeit und Anerkennung findet, kann die Polis nicht überleben. Was bedeutet es, wenn mancherorts im Osten rechte Stämme von „Überflüssigkeitskriegern“ eine Art Hoheit über den verbliebenen öffentlichen Raum erlangen? Von Überflüssigkeitskriegern sprechen im Anschluß an Hartmut Dießenbachers Buch „Kriege der Zukunft“ inzwischen auch Sozialwissenschaftler, wenn sie Einheimische verstehen wollen.
Jenseits einer Politikerpolitik, die fast nur noch Posen produziert, aber keine Ideen mehr hat, wird Politik an der Basis neu konstituiert. Nicht so sehr als Parole, sondern als Suche nach Formen, sich zusammenzuschließen, oft nach simplen Mustern, die ohne Feinde nicht halten. Dem nur mit ideologischer Verdächtigung, genereller Verteufelung oder anderen Kriegserklärungen zu antworten, bleibt allerdings genau auf der paranoischen Niedrigstkomplexität, die es zu überwinden gilt.
Nun gibt es zum Glück nicht nur die Rechten. Pfingsten brachte in Berlin der Karneval der Kulturen einige zehntausend auf die Straßen, von mehr als hunderttausend an den Rändern gesäumt. In Hamburg machten sich 200.000 zum sogenannten Generation-Move um die Alster auf, bei dem nicht nur Techno gespielt wurde. Drei Tage zuvor gingen in der Hansestadt 80.000, vor allem Schüler, zur größten „Bildungsdemo“ auf die Straße. Das hatte keiner erwartet. Eine Eruption aus dem Schweigen, wie beim Studentenprotest im vorigen Herbst, unerwarteter Aufbruch, der vielleicht gleich wieder zurück ins Schweigen führt.
Das Bedürfnis, sich zu versammeln und sich zu zeigen, regt sich überall. Da ist etwas im Gang, wofür weder die Vokabeln „rechts“ und „links“ noch die Bezeichnung Jugendbewegung hinreichen. Aufschlußreich ist der Versuch einer „nachindustriellen Ökonomie“ des Wiener Georg Franck. Sein Essay „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Hanser Verlag) gilt als Theorieereignis der Saison. Aufmerksamkeit ist nach dem Brot das wichtigste Lebensmittel. „Die Menschenseele“, schreibt Franck, „fängt schon an zu leiden, wenn sie kein Mindesteinkommen an Zuwendung bezieht. Der Entzug kann sogar tödlich sein. Kinder sterben an mangelnder Zuwendung. Erwachsene erleben Isolation als Folter.“
Aufmerksamkeit, die wir von anderen brauchen, und Aufmerksamkeit, die wir für die Welt aufbringen, also Neugier, bedingen sich gegenseitig. Nur wenn es gelingt, diese Wechselbeziehung zu kultivieren, kann „Bildung“ gelingen. Anders gesagt: Mißachtete können weder neugierig noch lernbegeistert sein, denn Lernen ist eine Vorfreude auf sich selbst.
Was für Politik gilt, die ihren Nullpunkt erreicht hat, das gilt auch für das andere zentrale, auf den Hund gekommene Thema, Bildung. Wenn auch die Sparpolitik kürzlich in Hamburg den 80.000 die Parolen lieferte, dahinter steht ein anderer, von den Kids gespürter, nur viel schwerer zu artikulierender Mangel. Er ließe sich in dieser „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ formulieren. Es geht um Anerkennung sowie, mehr denn je, um das Hand- und Kopfwerkszeug, ohne daß man von vornherein zu den Überflüssigen gehören wird. Es geht darum, gebraucht und geachtet zu werden. Die Kids verlangen das mindeste, an dem es allerdings der herrschenden Ökonomie am meisten fehlt: Respekt. Reinhard Kahl
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