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■ Die Indianer Mexikos – Opfer der „Entwicklungspolitik“Fehlgelaufene Integration

Wie tritt die indianische Bevölkerung Mexikos mit der nichtindianischen Welt in Verbindung? Allgemein läßt sich sagen, daß der Handel, die Arbeit für die spanisch sprechende Bevölkerung, daß Schulen, Kirchen, Militärdienst und gezielte Entwicklungsprogramme der Regierung die hauptsächlichen Formen der Interaktion darstellen. Sie bringen in unterschiedlichem Maße Druck oder gar Zwang zur Veränderung der indianischen Lebensweise mit sich. Manchmal zeigt allerdings die Anlage einer neuen Straße einen tiefergreifenden Wandel an als umfangreiche und teure Schulprogramme seitens der Regierung.

Intensive Handelsbeziehungen gibt es seit der Kolonialzeit, und sie haben sich in einer Weise stabilisiert, daß die indianische Lebensweise durch sie nur geringfügig und allmählich verändert wird. Es ist bezeichnend, daß in mehreren Gegenden Mexikos, in denen die indianische Bevölkerung demographisch überwiegt, nicht Spanisch die Marktsprache ist, sondern die jeweilige Indianersprache. Bei diesen Beziehungen haben es die Indianer auch in der Hand, selbst zu entscheiden, was sie übernehmen wollen und was nicht. Da Transistorradios wegen der Musikprogramme zunehmend beliebter werden, sind Indianer jetzt in gleichem Maße wie die andere Bevölkerung der kommerziellen Werbung ausgesetzt.

Regelmäßige Arbeit außerhalb der eigenen Gemeinde führt häufig zur Aufgabe der traditionellen Tracht, woraus aber nicht automatisch ein tiefergreifender Wandel folgt. Bisweilen werden dabei neue handwerkliche Fähigkeiten, wie etwa die eines Maurers, erworben. Von eher peripherer Wirkung ist der Militärdienst, den im übrigen trotz offizieller Verpflichtung bei weitem nicht alle Indianer ableisten. Der Wehrdienst hat oftmals die für die soziale Stellung der Indianer positive Folge, daß die Sprachkenntnisse erweitert werden. Während der Kasernierung wird nur spanisch gesprochen.

Mittlerweile hat die Regierung auch in entlegensten Indianerdörfern Schulen eingerichtet, die allerdings sowohl in der materiellen als auch personellen Ausstattung nicht dem Niveau städtischer Einrichtungen entsprechen. Der Zwangsmaßnahme der Schulpflicht wird in indianischen Gemeinden weitgehend nachgekommen, wenn auch oft nicht für die geforderte Gesamtzeit von sechs Jahren. In den Schulen wird nach einem einheitlichen Schulbuch für ganz Mexiko gelehrt; auf die jeweilige indianische Kultur wird dabei nicht eingegangen. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß auch Indianerkindern, deren Vorfahren der aztekischen Unterwerfung mit Erfolg getrotzt hatten, nur beigebracht wird, daß die Azteken ihre Vorfahren waren. Sie werden heute auch gezwungen, die Namen aller aztekischen Herrscher auswendig zu lernen. Der Unterricht findet durchweg auf spanisch statt. Wo mit der Alphabetisierung in Indianersprachen experimentiert worden ist, diente diese Maßnahme letztlich nur dem Ziel, durch eine effizientere Methode den Übergang zum Spanischen zu erleichtern und die Indianersprache schneller auszurotten.

Wenn in den Indianergebieten auch vorwiegend schlecht ausgebildete Hilfslehrer wirken, hat die massive Einrichtung von Schulen doch dazu geführt, daß die jüngere Generation etwas besser Spanisch spricht. Keineswegs selten sind aber Fälle von Indianern, die trotz des Erwerbs des Zeugnisses der 6. Schulklasse weder lesen und schreiben noch Spanisch sprechen können. Der gravierendste Einfluß der Schulen besteht im schlechten Vorbild, das die Lehrer vermitteln. Sie führen den Indianerkindern vor Augen, wie man fast ohne zu arbeiten bemerkenswert reich werden kann. Das Ergebnis besteht darin, daß Indianerkinder, die das 6. Schuljahr abgeschlossen haben, dem Beispiel der Lehrer nacheifern wollen und es als unter ihrer Würde empfinden, ihren Eltern bei der Arbeit in der Landwirtschaft zu helfen.

Nach anfänglich rigoroser Missionsarbeit hatte die Kirche – nicht zuletzt wegen des Pfarrermangels – seit der Unabhängigkeit die Zügel locker gelassen, so daß sich ungehindert vielfältige Synkretismen herausbilden konnten. Jetzt aber geht die katholische Kirche zunehmend wieder zu einer aggressiven Indoktrination über, bei der versucht wird, einen europäisch geprägten Einheitskatholizismus durchzusetzen – viel Zündstoff für Konflikte. Im übrigen ist die Regierung bemüht, die Indianer mit gezielten Entwicklungsprogrammen in den Staatsverband zu integrieren und ihre Lebensbedingungen zu verbessern. All diese Projekte entstanden nicht etwa aufgrund einer Befragung von Indianern über ihre eigenen Wünsche. Ziele und Programme wurden stets von oben bestimmt.

Bei derart massiver und vielfältiger Einflußnahme von außen bleibt den Indianern kaum Möglichkeit, aus eigenem Antrieb Initiativen zu entwickeln, da sie ständig damit beschäftigt sind, in irgendeiner Weise auf diese Anstöße reagieren zu müssen. Soweit ihnen dabei eine Chance zur eigenen Entscheidung belassen ist, verfahren sie überwiegend nach der seit Jahrhunderten bewährten Art und Weise: Sie bemühen sich, Dinge, die ihnen nicht zusagen, zu ignorieren, nehmen willig Neuerungen auf, von denen sie sich Vorteile versprechen, und versuchen im übrigen, aufgezwungene Neuerungen entsprechend ihrem eigenen Verständnis und ihren Zielsetzungen zu praktizieren. Vor allem im Bereich der Religion haben sie einen facettenreichen Synkretismen entwickelt. Ähnliches gilt auch für die Institutionen der Gemeindeverwaltung, die nicht immer dieselben Funktionen haben wie in Gemeinden der spanisch sprechenden Bevölkerung.

Im religiösen Bereich ist es durch das aggressive Vorgehen der katholischen Kirche schwieriger geworden, die eigenen Vorstellungen und Riten beizubehalten. Nur konsequent war daher der geschlossene Übertritt der Chamula in Chiapas von der katholischen zur orthodoxen Kirche, die bereit ist, den gewünschten Freiraum zu gewähren. Zusätzliche Probleme entstehen durch protestantische Sektenmissionare, gegen die außer dem Hinauswurf bisher anscheinend noch kein Heilmittel gefunden worden ist.

Es muß verwundern, daß lange Zeit keine nennenswerten indianischen Interessengruppen entstanden sind. 1975 kam es zur Gründung des Consejo Nacional de Pueblos Indigenas (CNPI), eines Indianerrates. Dabei handelte es sich aber nicht um eine indianische Initiative, sondern um eine Etablierung von oben. Ein besonderes Problem dieser Indianerräte bestand darin, daß sich zumeist akkulturierte ehemals indianische Lehrer ihrer bemächtigten, die wegen ihres gänzlich oder zumindest weitgehend vollzogenen ethnischen Identitätswechsels gar keine Vertreter indianischer Interessen sein konnten. Im Verlaufe der achtziger Jahre ist nun aber doch eine größere Anzahl indianischer Organisationen entstanden, die zumindest auf regionaler Ebene gewissen Einfluß erlangen konnten. Ein gemeinsames Handeln auf der Ebene eines Bundesstaates oder gar ganz Mexikos ist jedoch nicht erkennbar. Als Gruppe ist es den Indianern bislang kaum gelungen, ihre Position im bestehenden Machtgefüge zu verbessern.

Wie steht es mit den individuellen Aufstiegschancen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft? Eine derartige Karriere ist in der Regel von einem Identitätswechsel begleitet. In den meisten Fällen landen die zur spanisch sprechenden Bevölkerungsgruppe übergewechselten Indianer in der untersten sozialen Schicht der Städte. Für sie ist aber durchaus auch ein Einstieg in die untere Mittelschicht möglich, wenn sie eine Ausbildung als Lehrer, Krankenschwester, Sekretärin, Bankangestellte oder eine ähnliche Qualifikation erlangt haben. Dann werden sie trotz ihrer indianischen Herkunft vielfach auch als Ehepartner akzeptiert.

Und wie sind die Aufstiegschancen in die höheren Etagen? Hier ist ein Problem angesprochen, das nicht nur Indianer betrifft, sondern alle Mexikaner, die indianisch oder mestizisch und damit mexikanisch aussehen. Sie sind allesamt in der Praxis von den höchsten Positionen ausgeschlossen. Nahezu alle Macht liegt in Händen von Weißen und sehr hellhäutigen Mestizen. Diese praktizieren untereinander weitgehend Endogamie, und sie spielen sich gegenseitig geschickt die wichtigsten Positionen zu. Gewisse Ausnahmen von dieser Regel konnte ich nur an der Universität und beim Instituto Nacional Indigenista, der zentralen Indianerbehörde, beobachten, wo auch dunkle Mestizen und indianisch aussehende Mexikaner hohe Positionen bekleiden können. Symptomatisch für die Situation im Lande ist der Umstand, daß die letzen vier Präsidenten spanischen Familien entstammen, die erst vor wenigen Generationen nach Mexiko eingewandert sind. Zur Dokumentation gleicher Chancen für alle beruft man sich in Mexiko gern auf Benito Juárez; dessen Präsidentschaft liegt aber schon mehr als hundert Jahre zurück. Im übrigen war er nur von der Geburt her Indianer, nicht aber von seiner Sozialisation und seinem Selbstverständnis her.

Die Dominanz der Weißen zeigt sich besonders deutlich in den Medien, zumal im Fernsehen. Moderatoren wie Ansagerinnen sind größtenteils Weiße. Nur für folkloristische Einlagen, besonders in Verbindung mit mexikanischer Volksmusik, ist mexikanisches Aussehen erwünscht. Wäre nicht das Spanische, könnte man vor mexikanischen Fernsehern beim größten Teil der Programme durchaus den Eindruck gewinnen, man befände sich in „Gringolandia“. Ulrich Köhler

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