Die Hoffnung Noltes

Der Holocaust — ein Abschnitt des „Europäischen Bürgerkriegs“?  ■ Von Micha Brumlik

Sechs Jahre nach dem „Historikerstreit“ sind die Fragen, die er aufgeworfen hat, nicht erledigt. Der gern geäußerte Hinweis, daß sich diese Debatte in der „alten“ Bundesrepublik unter der Käseglocke des auslaufenden Kalten Krieges abgespielt hat, ist nicht die Antwort, sondern ein Teil dieser offenen Fragen. Mit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus, der das Öffnen stalinistischer Massengräber ebenso ermöglichte wie die Freigabe verschlossenen sowjetischen Archivmaterials, scheinen Ernst Nolte und Andreas Hillgruber recht zu bekommen.

Ließ sich das, was mit diesen Funden zwar nicht bekannt, aber ein weiteres Mal beglaubigt wurde, nun doch mit den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten wenn schon nicht gleichsetzen, so doch wenigstens sinnvoll vergleichen? Bestätigte sich Klaus Hildebrands These vom „Zeitalter der Tyrannen“ Hitler und Stalin nicht eindrucksvoll, als Menschenketten baltischer Demonstranten Hakenkreuz, Hammer und Sichel als Symbole gleichen Unrechts bloßstellten? Bekamen nicht all jene liberalen Denker recht, die jahrelang – gegen den neomarxistischen Zeitgeist – an der Wahrheit der Totalitarismustheorie festgehalten hatten? Haben wir also, so fragen heute viele, nicht allen Anlaß, wenigstens Noltes Motive zu respektieren, auch wenn seine bizarreren Behauptungen, etwa die von der „Kriegserklärung“ der Juden an Hitler, als Nonsens zurückzuweisen sind?

Doch steht auch heute, sechs Jahre später, weder das Schicksal des Baltikums noch die erklärende Kraft der Totalitarismustheorie zur Diskussion, sondern, wie schon damals, die Frage der Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit jener Massenvernichtung, die wir mit dem Eigennamen „Auschwitz“ nur unzulänglich bezeichnen. Mehr noch: Erst heute wird deutlich, daß alle anderen Fragen, etwa ob die Verschwörung vom 20.Juli zu spät kam, ob Stalin bereits 1940/41 offensiv gegen das Deutsche Reich rüstete, ob Hitler durch weißrussische Emigranten in München zum Antisemiten wurde, nebensächlich waren.

Erst heute, nach der mißlungenen, aber eben doch erfolgten Neugründung eines einigen, souveränen Deutschland, steht die Frage zur Entscheidung an, ob das nationale Projekt eines souveränen deutschen Volkes eine gehaltvolle Zukunft hat. Denn soviel dürfte deutlich sein: Wenn „Auschwitz“ tatsächlich jenes einzigartige, von der Krieg führenden deutschen Gesellschaft arbeitsteilig begangene Menschheitsverbrechen war, dann ist dies ein Umstand, an dem weder Psychologie noch Politik oder gar Moral vorbeikommen. Dann trifft zu, daß „Auschwitz“ nicht nur die Seelen der Opfer und ihrer Kinder verwüstete, sondern auch im gesellschaftlichen Zusammenhang der Täter auf unabsehbare Zeit seelisch-geistige Spätschäden hinterlassen hat. Dann zeigt sich, daß souveräne deutsche Politik, wie die deutschen Reaktionen erst auf die kroatische Unabhängigkeitserklärung, dann auf den von Serben verübten Völkermord an den bosnischen Muslimen beweisen, zwischen Großmannsucht und Feigheit schwanken und somit schuldig werden muß. Dann gilt eben doch, daß zwölf Jahre zwölfhundert Jahre dementieren und entwerten können.

Ist „Auschwitz“ hingegen, so Joachim Fest, nur ein Ausdruck allgegenwärtigen menschlichen Ungeistes, oder, wie etwa Götz Aly glaubt, Auswuchs einer bevölkerungspolitisch planenden Vernunft, die mit der Aussiedlung der Griechen aus Kleinasien 1922 begann, oder, wie vormals maoistische Neuliberale gern andeuten, nur eine andere Art „Archipel Gulag“, dann ließe sich in gemeinsamer Trauerarbeit der europäischen Völker ein neuer Anfang setzen. Dann hätten Deutschland und seine östlichen Nachbarn noch eine emphatische nationale Zukunft.

Dies jedenfalls war und ist die Hoffnung Ernst Noltes. Er setzte 1987 in seinem Buch über den „Europäischen Bürgerkrieg“ außergewöhnliche Hoffnungen auf eine innersowjetische Vergangenheitsbewältigung: „Es ist nicht ausgeschlossen, daß dann im Osten Europas eine schönere Gestalt der Freiheit entstünde, als sie in einem Westen Wirklichkeit wäre, der aus der Erinnerung an die letzten großen ideologischen Auseinandersetzungen seiner Geschichte [...] nichts anderes mehr herleiten würde als Legenden auf der einen und Konsumorientierung auf der anderen Seite.“

Auf Noltes Seite schlagen sich heute, mehr oder minder verschämt, viele, denen es um Zukunft, um Unbefangenheit, um ein neues Deutschland geht; all jene, die aus einem verständlichen seelischen Impuls heraus der Bürde der Geschichte müde sind und sich den Aufgaben des Tages, Deutschlands und Europas widmen wollen, Aufgaben, die wahrlich drängen. Allerdings ist bisher östlich der Elbe auf die Barbarei des Stalinismus von Tadschikistan bis Rostock lediglich die Barbarei von Rassismus, Bürgerkrieg und Nationalismus gefolgt. Dort kann von nichts weniger die Rede sein als von einer schöneren Form der Freiheit. Noltes Hoffnung trog. Die Mentalität jedoch, die „Auschwitz“ zwar nicht bewirkte, aber doch geschehen ließ, erfreut sich – keineswegs nur in Deutschland – ungebrochener Beliebtheit. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Weder die serbischen Vergewaltigungslager noch die ethnischen „Säuberungen“ oder die Strategie des Verhungernlassens wider die bosnischen Muslime reichen in ihrer Ungeheuerlichkeit an das massenhafte Vergasen von Menschen heran, deren Namen zuvor genommen, deren Haut zuvor numeriert wurde. Dennoch ist in einem Europa, in dem systematischer Völkermord, von der Weltöffentlichkeit durchaus beachtet, straf- und widerstandslos vollzogen werden kann, ein zweites Auschwitz nicht undenkbar.

Angesichts der unsäglichen Debatte um die Rolle deutscher Navigatoren in Awacs-Flugzeugen über dem ehemaligen Jugoslawien verstehen wir heute besser, wieso die westlichen Alliierten sich ebenso wie Stalin weigern konnten, die Gleise nach Auschwitz zu bombardieren. Erweist sich also das Zögern der Bedenkenträger als Ausfluß eines Denkens, das „Auschwitz“ so sehr aller Wirklichkeit entzog, daß es auf anderes Unrecht, andere Gewalt erst gar nicht mehr reagiert?

Im Gegenteil: Den Völkermord an den bosnischen Muslimen läßt nur zu, wer schon immer der Auffassung war, daß auch „Auschwitz“ nur eine Art „Gulag“ und der „Gulag“ eine Art „Rote Khmer“ darstellte, die „Rote Khmer“ eine Bürgerkriegspartei, Bürgerkriege aber immer grausam sind. Nichts anderes besagte Noltes Umdeutung der Geschichte des Nationalsozialismus zu einem Abschnitt im „Europäischen Bürgerkrieg“.

Kaum anders betrachten wir heute die Geschehnisse in Bosnien. Wo der Weltlauf achselzuckend, souverän und im Bewußtsein der nationalen Interessen betrachtet wird, ist für die Wahrnehmung vergleichlicher Verbrechen wie des Genozids an den bosnischen Muslimen ebensowenig Raum wie für die Anerkennung der Unvergleichlichkeit der industriellen Massenvernichtung. Eine Welt, die die zweckfreie Erinnerung an die Einzigartigkeit von „Auschwitz“ nicht aushält, muß mit seiner Wiederkunft rechnen.