■ Der mühsame Weg vom Steuerzahler zum Staatsbürger: Die Heloten von heute
I.
Während der friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR im Herbst 1989 klagte ein nennenswerter Teil der Opposition keineswegs die Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik, sondern eine Verfassung ein, die dem Volk der DDR den Genuß der Bürger- und Menschenrechte bescheren sollte. Die kurzlebige gesamtdeutsche Verfassungsbewegung nach der Vereinigung mit ihren Runden Tischen und Verfassungsentwürfen übernahm diesen Impuls, verrannte sich freilich in Details und münzte legitime sozialstaatliche und ökologische Ansprüche wie das Recht auf Arbeit, Wohnung oder den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Verfassungsprinzipien um.
Leider bedurfte es der Morde von Solingen, um das zentrale verfassungspolitische Defizit der Demokratie in Deutschland zu offenbaren: In ihrem Rahmen leben rund acht Prozent der Wohnbevölkerung, die zwar (bisweilen begrenzt) im Genuß der allgemeinen Menschenrechte, aber nicht der Bürgerrechte sind.
Die gegenwärtige Debatte, die sich um die Frage dreht, inwieweit doppelte Staatsangehörigkeiten rassistische Ausschreitungen begrenzen können, ist zwar sinnvoll, führt aber gleichwohl in die Irre.
Auch der Blick auf „Europa“, wo das Staatsangehörigkeitsrecht in Frankreich derzeit rückschrittlich, in den Niederlanden fortschrittlicher gestaltet wird, lenkt nur ab. Besonders fatal wirken freilich pragmatische Abspannversuche, die abgeklärt zwischen völkischen und republikanisch-voluntaristischen Prinzipien unterscheiden und beides an der sogenannten „Lebenswirklichkeit“ messen. So sehr nun situationsgebundenes, pragmatisches Herangehen in den meisten Feldern sachlicher politischer Auseinandersetzung sinnvoll sein kann, so unangemessen ist es bei den Grundlagen politischen Zusammenlebens – eben bei den Verfassungsprinzipien.
Ginge es nur darum, ein paar Beteiligungsrechte mehr speziell für türkische Staatsangehörige zu erwirken, lohnte sich keine politische Anstrengung. Denn dieses Ziel wird auch die gegenwärtige Koalition mit windschiefen staatsrechtlichen Konstruktionen von Staatsangehörigkeiten auf Probe über mehr Rechte für Bürger EG- assoziierter Staaten früher oder später erreichen.
II.
Die Frage der Ablösung des ius sanguinis durch das ius soli, eines Staatsangehörigkeitsrechts also, das sich völkischer Kriterien bedient, durch ein Recht, das sich an republikanisch-universalistische Kriterien hält, ist eine Prinzipienfrage. Bei ihr geht es nicht nur um das Überwinden der letzten Rückstände deutschnationaler oder nationalsozialistischer Ideologie im Grundgesetz, sondern vor allem darum, ob Deutschland sich politisch der Moderne wirklich rückhaltlos öffnen wird. Bei der Auseinandersetzung um ius sanguinis oder ius soli geht es zwar auch darum, die hier lebende Wohnbevölkerung ohne deutschen Paß – soweit sie volljährig ist – in die Lage zu versetzen, über das Verwenden ihrer Steuergelder mitzubestimmen (No taxation without representation!) und rassistischen Politikern über Wahlen einen Denkzettel zu verpassen, vor allem aber um die moderne Gestalt der Freiheit.
Der CDU-Politiker Heiner Geißler hat zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, daß ein politisches Gemeinwesen, das Arbeitskräfte aufnimmt, die über keine politischen Rechte verfügen, sich im Prinzip nicht von der antiken Polis mit ihren Heloten (so die spartanischen Staatssklaven) oder Metöken (so die attischen Beisassen) unterscheidet. Andere Menschen unter dem Vorwand, sie seien „Gäste“, über Jahrzehnte ökonomisch und sozial auszubeuten, ohne daß sie – wie das im demokratischen Kapitalismus prinzipiell der Fall sein sollte – in der politischen Sphäre über gleiche Rechte verfügen, heißt nichts anderes, als die eigene politische Freiheit auf der Knechtschaft anderer zu behaupten.
Daß es sich dabei um eine zahlenmäßige Minderheit handelt, tut nichts zur Sache. Das Ergebnis jeder Parlamentswahl ist eine Lüge, weil es den politischen Willen einer starken Minderheit vernachlässigt. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich aktuelle Wahlergebnisse vorzustellen, die vom politischen Willen von ImmigrantInnen mitbestimmt sind. Der Ausschluß von Menschen, die seit langem hier leben, von der politischen Willensbildung verfälscht das Repräsentationsprinzip schon im Ansatz. Damit beruht demokratische Herrschaft auf praktischer Unwahrheit.
Für das ius soli und die ihm korrespondierende Regelung, doppelte Staatsangehörigkeiten zuzulassen, spricht alleine der Umstand, das durch dieses Recht alle Bürgerinnen und Bürger, zumal jene mit deutschem Paß, emanzipiert werden.
Schließlich besagt das ius soli lediglich, daß Bürgerrechte kein persönlicher Besitz sind, der von den Eltern als Pflichtteil vererbt wird, sondern unbedingte Ansprüche, die allen Menschen von Anbeginn zukommen.
III.
Dieser normative Sinn des Bürgerrechts wird in der aktuellen Debatte in zwei Hinsichten verfälscht. Wird es einerseits aus Opportunitätsgründen im Rahmen einer pragmatischen Nichteinwanderungspolitik zur Bewahrung des sozialen Friedens erwogen, so erscheint es andererseits als etwas, das gleichsam obrigkeitsstaatlich gewährt wird. Eine von oben gewährte Emanzipation aber stellt immer nur eine halbierte und damit überhaupt keine Emanzipation dar. Bürgerrechte bedürfen, gerade dann, wenn sie das soziale Fundament eines politischen Gemeinwesens stärken sollen, des gemeinsamen Kampfes, womöglich auch der gemeinsamen Niederlage, nicht aber eines dankbaren Entgegennehmens.
Derzeit ist völlig unklar, ob die Reste der deutschen Linken, ob Menschen- und Bürgerrechtsgruppen, ob Liberale in allen etablierten Parteien von der CDU bis zu Bündnis 90/Die Grünen, ob Kirchen und Verbände, vor allem aber, ob die unterschiedlichen ImmigrantInnenorganisationen selbst die Tragweite dieser Frage erkannt haben und zu gemeinsamem Handeln bereit sind.
IV.
Sollte dem so sein, steht auch hierzulande – im scharfen Bewußtsein der historischen, politischen und sozialen Unterschiede – eine in sich vielfältige, massenhafte Bewegung auf der Tagesordnung, die wie das civil rights movement in den USA der sechziger Jahre so lange politisch kämpft, bis das ius soli von Geburt an zur zureichenden Bedingung der Staatsbürgerschaft wird.
Eines freilich steht jetzt schon fest: Sollte auch diese grundsätzliche Frage eines neuen Verfassungsverständnisses in den Mühlen und Kompromissen der Bonner Parteien, außenpolitischer Opportunitätserwägungen, verfassungsrechtlicher Einlassungen und kleinster gemeinsamer Nenner zerrieben, um schließlich als Geschenk an ausgewählte ImmigrantInnengruppen präsentiert zu werden, so dürfte eine weitere Chance, der 1989 neugegründeten deutschen Nation eine liberale Verfassung zu verleihen, vertan sein. Michael Brumlik
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