: Die „Helden“ von Tschernobyl
■ Ausgereiste Sowjetbürger berichten von Zwangsrekrutierungen für Aufräumungsarbeiten in Tschernobyl
Tschernobyl, so das Fazit aller Berichte von Leuten, die bis Ende letzten Jahres die Sowjetunion verlassen haben, ist ein riesiges Arbeitslager. Ein Lager, aufgefüllt mit Arbeitern, die zwangsweise in die Todeszone gebracht wurden, und dort nun unter Kriegsrechtsbedingungen das Gebiet um Tschernobyl entseuchen müssen. Trotzdem bleibt der Aufschrei im Westen aus, denn wer würde wohl hier die gleiche Arbeit freiwillig tun? Tschernobyl, sieben Monate danach, ist das Thema des Super- Gaus in der Weltöffentlichkeit fast verschwunden. Kaum das noch die Meldung registriert wird, in Tschernobyl sei einer der angeblich nicht beschädigten Reaktorblöcke wieder in Betrieb genommen worden, denn auch das deutet ja darauf hin, daß die Normalität wiederhergestellt ist. Doch wie sieht Normalität in einem hochgradig verseuchten Gebiet wie dem um Tschernobyl eigentlich aus? Wer arbeitet unter welchen Bedingungen daran, die verseuchten Zonen wieder bewohnbar zu machen?
Regierungsoffiziell arbeiten in Tschernobyl „Helden“ die „zum Teil unter Opferung von Leben und Gesundheit darauf brannten, den atomaren Riesen zu besiegen.“ Fragt man ehemalige Bürger der Sowjetunion, die innerhalb des letzten Jahres ihr Land verlassen haben und in den Westen ausgereist sind, wird zwar bestätigt, daß in Tschernobyl viele ihr Leben oder zumindest ihre Gesundheit gelassen haben, nicht aber das dies aus einem Überschwang an Patriotismus geschah.
Per Befehl in die Sperrzone
Im Gegenteil: alle Befragten berichten übereinstimmend von Zwangsrekrutierung durch das Militär, die fast überall in der Sowjetunion durchgeführt wurden.
Tatjana Nasrowna (Name geändert), Krankenschwester aus Kiew, hat bis zu ihrer Ausreise in den Westen Strahlenkranke betreut. „Es begann Anfang Mai: Bauarbeiter, Lkw-Fahrer, Elektriker, Mechaniker, Ingenieure, Ärzte wurden durch militärischen Befehl in die Sperrzone (Radius 30 km) transportiert.“ Ihr Freund, Tichon Fedja (Name geändert), gehörte dazu. „Nach vier Wochen wurde er freigelassen, denn er konnte nicht mehr arbeiten. Er ist strahlenkrank. Nur wer todkrank ist, kann, bevor die sechs Monate vorbei sind, gehen.“
1.200 Kilometer von Kiew entfernt liegt Leningrad. Sergej Lomow (Name geändert) war bis zu seiner Ausreiseerlaubnis im November Arzt am ersten medizinischen Institut in Leningrad: „Einige meiner Kollegen bekamen im Mai Post vom Militär. Aber sehr viele reagierten nicht. Sie hatten Angst. Dann fing das Militär die Leute zum Abtransport nach Tschernobyl an den Arbeitsplätzen ein. Trotzdem sind viele geflüchtet. Andere haben sich für einige Jahre zur Arbeit in Sibirien verpflichtet, um nicht nach Tschernobyl zu müssen.“
Was ist mit denen passiert, die dann doch in der Sperrzone zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden? „Ein Kollege von mir, 29 Jahre alt, hatte gerade seine Facharztprüfung für Chirurgie abgeschlossen, da kam der Befehl zur Arbeit nach Tschernobyl. Das war drei Monate nach der Katastrophe. Einen Monat später kam er zurück: In einem zugelöteten Zinksarg. Niemand konnte in den Sarg schauen um herauszufinden, was passiert war. Aber seine Schwester Nina bekam aus der Zone einen Brief. Dadurch erfuhren wir, daß er sich umgebracht hat, nachdem er seine eigene Kontamination gemessen hatte. Es war das Mehrfache der tödlichen Dosis. Er wußte, daß nach einer kurzen symptomfreien Latenzzeit der Zerfall des Körpers beginnt: Innere Blutungen, Haarausfall, Geistesverwirrung, Fieber, das Verfaulen der Haut bis zum Tod. Das wollte er nicht durchmachen. Er ist in seiner Heimatstadt Kolpino begraben.“
Moskau, 750 Kilometer von Tschernobyl entfernt: Der Physiker Alexej Korostelef wurde aus Moskau vor zwei Monaten wegen seiner Arbeit in der oppositionellen Trust-Group ausgewiesen: „Schon 18jährige müssen damit rechnen, für Arbeiten in Tschernobyl zwangsrekrutiert zu werden. Wer sich weigert, bekommt ein, drei oder fünf Jahre Gefängnis gemäß Artikel 80 des Strafgesetzbuchs. Arbeit in Tschernobyl ist Kriegsdienst. Wer in die Zone fährt, muß schweigen, sonst begeht er Geheimnisverrat.“ Nach Artikel 80 des sowjetischen Strafgesetzbuches wird derjenige bestraft, der versucht, sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Doch obwohl fünf Jahre Gefängnis ja durchaus keine Kleinigkeit sind, weigerten sich viele, ihrem Stellungsbefehl Folge zu leisten.
Fahnenflucht verbreitet
So berichtete die Prawda im letzten Sommer mehrmals, daß sich ein großer Teil ehemaliger Reaktorarbeiter „auf der Flucht“ befände. Sie stellte fest, daß „sich mehr als 3.000 Mann aus Tschernobyl illegal entfernt hätten“. Um mit dieser Befehlsverweigerung fertig zu werden, gingen die sowjetischen Behörden nach Berichten Ausreisender vor allem in den Sommermonaten dazu über, Arbeitskräfte aus dem ganzen Land kurzerhand in die Todeszone zu verschleppen. Zwei weitere, aus Moskau gerade ausgewiesene Mitglieder der Trust-Group Olga und Goldmann Levitan berichten von einem Moskauer Bauarbeiter: „Es war im Sommer. Um zwei Uhr nachts kingelte es bei ihm an der Tür. Im Schlafanzug öffnete er. Die Miliz stand vor ihm. Sie nahmen ihn sofort mit, zum nächsten Sonderzug nach Tschernobyl. Einem Kollegen von ihm geschah fast das gleiche.“
Tallinn, Hauptstadt des an Finnland grenzenden Estland, 1.000 Kilometer nördlich von Tschernobyl. Hier lebte bis einige Tage nach der Reaktorkatastrophe Gunnar Hakelberg. Nach Angaben des Osteuropäischen Solidaritätskomitee in Stockholm wurde er, als er über die Straße ging, von der Miliz aufgegriffen und mit Hunderten anderer Bürger aus der Region direkt zur Zwangsarbeit deportiert. Nicht einmal seine Familie durfte er informieren. In Tschernobyl wurde er dazu eingeteilt, andere Arbeiter zu bewachen. Er bekam den Befehl, Leute niederzuschießen, sollten sie streiken. Ob er es tat, ist unbekannt, denn Hakelberg starb in Tschernobyl.
In Tschernobyl herrscht Kriegsrecht. Der Emigrant Jurij Medwedkow, ehemaliges Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Moskau: „Kriegsrecht in Tschernobyl bedeutet, daß Militärgerichte in der Zone über Tod und Leben entscheiden. Bei Widerstandshandlungen wie Streiks kann durch militärischen Befehl die Todesstrafe verhängt und sofort vollzogen werden.“
Kein Ende absehbar
Alle diese Aussagen zeichnen übereinstimmend dasselbe Bild: Die Zone von Tschernobyl ist ein großes Arbeitslager. Die Zahl der Zwangsarbeiter ist ein Staatsgeheimnis. Annahmen, wie die der Dissidenten-Zeitung La pensee Russe, es seien 100.000, sind unüberprüfbar. Die Zwangsrekrutierung erfaßt die ganze UdSSR. Der ukrainische Epidemologe Juri Stscherbak zählt, nachdem er in Tschernobyl war, auf: Archangelsk, Udmurtien, Orenburg, Poltawa, Rostow und Narjan- Mar. Sogar im islamischen Teil der UdSSR wird mobilgemacht.
In der Izwestia vom 15. Dezember wird stolz verkündet, daß 8.000 Quartiere für Tschernobyl- Arbeiter freigegeben worden sind. Am 22. September teilt die Regierungszeitung nebenbei den Bau einer ganzen Stadt für die Arbeiter in der Zone mit. Es geht um die Siedlung Seljonyj Mys (Grüne Landzunge), die innerhalb von zwei Jahren (!) für 10.000 Menschen (!) entstehen soll. Solche Zeitungsnotizen verraten, daß das Ende der Zwangsarbeit in ferner Zukunft liegt. Offiziell wird zugegeben, daß „500 Dörfer und Arbeiteransiedlungen“ dekontaminiert und „hunderte Kilometer Dämme“ gegen die Wasservergiftung gebaut werden müssen. Die Entseuchung des mindestens 150 mal 120 Kilometer großen hochkontaminierten Gebiets ist eine lebensgefährliche Sysiphus-Arbeit. Welchen Strahlenschutz gibt es? Dazu der ehemalige Leningrader Arzt Lomow: „Ab und zu die Kleidung wechseln und viel Wodka. 16 Stunden Arbeit am Tag, sechs Monate lang, sich nicht waschen können, weil unverseuchtes Wasser knapp ist, in ungeschützten Zelten schlafen. Das ist der Alltag von Tschernobyl.“ Die internationale Atomenergiebehörde ignoriert diese Zustände in Tschernobyl entschlossen. Die IAEA hat seit Monaten Hinweise auf die Zwangsarbeit.
Auf die Frage, ob sie den Informationen nachgeht, antwortet der IAEA-Sprecher Meyer: „Nein, unsere Aufgabe ist es, die internationale Zusammenarbeit in der Atomenergie zu fördern.“ Peter Belkin
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