: Die Hauptpartei ist das Kombinat
Eine Wahl zwischen „schlimm“ und „ganz fürchterlich“: In der nordrussischen Stadt Tscherepowjez wird Boris Jelzin am Sonntag siegen – trotz weit verbreiteter Unzufriedenheit ■ Aus Tscherepowjez Barbara Kerneck
Das Gemeindewappen zeigt zwei Bären, die sich um einen Thron streiten, wie Boris Jelzin und Gennadi Sjuganow um die russische Präsidentschaft. Die dazugehörige Stadt wäre gerne von den beiden besucht worden. Sie heißt Tscherepowjez. Vielleicht, um den NachrichtensprecherInnen diesen Zungenbrecher zu ersparen, hat keiner der Kandidaten den Weg hierher angetreten. Zu Unrecht. Das Städtchen im hohen Norden Rußlands, im fluß- und waldreichen Gouvernement Wologda, unweit des malerischen Bjeloje Osero (weißer See), ist mit seinen 320.000 EinwohnerInnen kein Provinznest wie alle anderen. Was die industrielle Produktion pro Kopf betrifft, gehört dieser Ort zu den führenden der Welt.
Eine gute halbe Stunde rattert der Zug aus Sankt Petersburg bei seiner Einfahrt in Tscherepowjez an den schwärzlichen Industriekonstruktionen der Sewero-Stahlwerke entlang. Dies ist das größte Hochofenwerk auf dem europäischen Kontinent. Hier begann Stalin seine Idealvorstellung von einem gigantischen sowjetischen Schwerindustrie-Monopolisten zu verwirklichen. Die Hauptbauten entstanden in den 50er Jahren, als Chruschtschow gerade eine ganze Reihe von Straflagern in der Gegend auflöste. Viele Häftlinge blieben und heuerten bei Sewero- Stahl an. Später entstanden noch drei Industrieriesen in der Stadt: ein Walzwerk und zwei Chemiefabriken, die überwiegend Kunstdünger herstellen.
Die Hauptstraße von Tscherepowjez heißt Sowjetski-Prospekt. Sie ist von zweistöckigen ehemaligen Bürgervillen gesäumt und trägt Spuren einstiger Schönheit. Der Prospekt führt zur orthodoxen Auferstehungskathedrale aus dem 18. Jahrhundert, die auf einem Hügel über der Stadt hockt. Dahinter erstreckt sich mit türkisfarbenen Laubsägesäulchen die Dampferanlegestelle am Fluß Scheksna. Holzschnitzereien verleihen der traditionellen nordrussischen Architektur ihren warmen Charakter.
Leider ist Holz nicht beständig – vom Tscherepowjez des 19. Jahrhunderts blieb wenig übrig. Damals wurde die 1777 gegründete Stadt „Athen des Nordens“ genannt. Sie beherbergte drei Bildungsanstalten und gleich zwei Theater. Ihr berühmtester Adelssohn, der Maler Wassili Wereschtschagin, geboren 1842, war Vorläufer der heutigen Kriegsreporter. Er malte akribisch alle Scheußlichkeiten, die ihm auf den Schlachtfeldern seiner Zeit unterkamen. Eines seiner berühmtesten Leichenbilder widmete er „allen großen Eroberern der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Wereschtschagin starb stilsicher und professionell. Mitsamt einem Schlachtschiff wurde er im März 1904 im Russisch-Japanischen Krieg bei Port Arthur versenkt. Sein Geist schwebt über der Stadt und schützt die TscherepowjezerInnen vor allen Versuchen, sie mit nationalpatriotischem Extremismus zu infizieren.
Tscherepowjez gehörte 1990 zu den ganz wenigen russischen Städten, die bei einem Referendum unter Gorbatschow für die Auflösung der Sowjetunion stimmten. Fast 60 Prozent der TscherepowjezerInnen wählten 1991 Boris Jelzin zum russischen Präsidenten, und über 45 Prozent drückten ihm beim Referendum im April 1993 noch einmal ihr Vertrauen aus.
Nach dem Tschetschenien- Krieg und gewissen seltsamen Auftritten hat Boris Nikolajewitsch sein Image aber auch in dieser Region ramponiert. Auf die Frage: „Sind Sie zufrieden damit, wie Boris Jelzin in den letzten Jahren die Pflichten des russischen Präsidenten erfüllt hat?“, antworteten kürzlich 43 Prozent der TscherepowjezerInnen mit Nein. Ein Befragter klagte: „Wir sind als Volk zwar kein Gottesgeschenk, aber so einen Präsidenten haben wir nun auch wieder nicht verdient.“
Und nun zum ersten Paradox der Tscherepowjezer Seele. Trotz solcher Unzufriedenheit mit ihrem Präsidenten sind 35 Prozent der BürgerInnen dieser Stadt bereit, Boris Jelzin wiederzuwählen – nur 10 Prozent wollen den Kommunisten Sjuganow. Unter den politisch Aktiven wollen sich sogar 48 Prozent für den gegenwärtigen Präsidenten entscheiden. Offenbar haben diese RealistInnen angesichts der gebotenen Kandidatenauswahl schlicht resigniert.
Die Leute in Tscherepowjez verdienen im Durchschnitt über die Hälfte mehr als der Rest der RussInnen, nämlich 1,3 Millionen Rubel statt 850 000 (433 statt 283 Mark). Gemindert wird die Freude an dem Geld allerdings durch die allrussische Zahlungskrise. Was nutzt die Summe schon auf dem Papier, wenn sie für den Monat April erst im Juni ausgezahlt wird? Politiker wie ManagerInnen der Stadt reißen jeweils neue finanzielle Löcher auf, um die alten zu stopfen.
Nur 26 Prozent aller BürgerInnen der Stadt haben den Eindruck, heute besser zu leben als vor der Perestroika. Und ganzen 49 Prozent geht es ihren Aussagen zufolge wesentlich schlechter. Aber – und nun kommt das zweite große Paradox der Tscherepowjezer Seele – 42 Prozent ziehen dennoch das heutige Leben dem Dasein in der Sowjetzeit vor und 60 Prozent sind für die Fortsetzung der Reformen. Offensichtlich glauben die einzelnen TscherepowjezerInnen, daß es allen rundherum besser gehe und nur sie ganz persönlich die Kurve zur Marktwirtschaft irgendwie noch nicht richtig kratzten. Dafür spricht eine letzte, betrübliche Zahl: die außerordentlich hohe Selbstmordrate in dieser Stadt. Sie betrug im lezten Jahr 49 Fälle auf hunderttausend EinwohnerInnen. In der Bundesrepublik sind es 18.
„Vor allem Männer im mittleren Alter können es nicht verkraften, wenn sie kein Geld nach Hause bringen“, erklärt die aparte brünette Swetlana Badanina (37), eine ehemalige Lehrerin, die heute bei einem Fernlehrinstitut Manager ausbildet und freiwillig bei der Telefonseelsorge der Samariter arbeitet: „Sie ziehen ihr Selbstwertgefühl nur aus ihrer Arbeit. Zirkel oder Gruppen, in denen sich diese Menschen nach Feierabend akzeptiert fühlen, gibt es hier kaum.“ Swetlana konnte sich bisher für keinen Präsidentschaftskandidaten entscheiden: „Ich habe das Gefühl, nicht zwischen Gut und Böse wählen zu müssen, sondern zwischen ,schlimm‘ und ,ganz fürchterlich‘.“
Juri Jewgenjewitsch Moschkin, Komponist und Stellvertreter des Bürgermeisters für soziale Fragen, ein knollennasiger Mittfünfziger mit freundlichen moosgrünen Äuglein, dirigiert hier heute praktisch ohne Vorgesetzten. Präsident Jelzin hat nämlich den in der ganzen Stadt beliebten Oberbürgermeister als Gouverneur nach Wologda versetzt. „Die hohe Produktivität unserer Stadt ist unser Plus und unser Problem“, erklärt Moschkin. „Soviel Industrie auf einmal konnte nur dank einer starken Vernachlässigung der sozialen Sphäre aufgebaut werden. Heute streben wir eine Balance zwischen den kommunalen Dienstleistungen und der Wirtschaft in Tscherepowjez an. Ich unterstütze Jelzin. Er hat mir vor vier Jahren drei Versprechungen gegeben. Zuerst habe ich eine Industriehochschule verlangt. Dann haben wir darum gebeten, zum 150. Geburtstag Wereschtschagins, 1992, mit Unterstützung der Regierung ein Festival auszurichten und dabei ein paar neue kulturelle Einrichtungen zu eröffnen. Drittens ging es uns um eine grundlegende Verbesserung der ökologischen Situation hier. Also: die Wereschtschagin-Tage fanden statt. 1995 kam der Regierungserlaß über die Hilfe für unsere Umwelt. Das Industrieinstitut existiert bereits. Und am 5. Juni hat der Ministerpräsident einen Erlaß über die Gründung einer staatlichen Universität in unserer Stadt unterschrieben. Unser Umweltprogramm steht und wird dreizehn Billionen Rubel [4,3 Milliarden Mark] kosten.“
Trotz dieser Fortschritte ist Moschkin noch weit von der angestrebten Balance entfernt. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert hat die Stadt heute kein Theater. Im Tscherepowjezer Kurier vom 7. Juni erklären Ärzte und Krankenschwestern der Stadt, seit März keine Gehälter mehr bekommen zu haben. Jetzt bitten sie die Sewero-Stahlwerke um Hilfe.
„In dieser Stadt ist die Hauptpartei das metallurgische Kombinat“, sagt Dima, ein junger Abteilungsleiter aus einer örtlichen Ziegelei, der sich über Swetlanas Fernkurse fortbildet: „Wir sind für Jelzin, weil alle Änderungen dem Geschäft schaden. Aber unsere wahren Feinde sind nicht die Kommunisten, sondern die im alten Denken verhafteten Kader in allen Parteien mit ihrer Faulheit, Engstirnigkeit und ihrem Glauben an Wunder. Die müssen wir überleben. Schwierig sind nur die ersten hundert Jahre. Von der Regierung verlangen wir nichts. Nur, daß sie uns nicht am Arbeiten hindert.“
Sergei Wassiljewitsch Schkakin (40), der Leiter von Jelzins Wahlstab in Tscherepowjez, klagt ebenfalls: „Dies ist eine bleierne Zeit. Wir müssen Kompromisse schließen. Vielleicht finden wir in fünf Jahren einen Präsidentschaftskandidaten, von dem die Leute wirklich begeistert sind.“ Auch Schkakin war einmal Manager im Kombinat. Offenbar dort hat er es zu einem gewissen Reichtum gebracht. Jetzt leitet er eine eigene Pharmafirma. „Ich arbeite mit jungen Leuten, und die lassen sich ihre Zukunft nicht wegnehmen“, verkündet der nickelbebrillte Herr. Für heute, so erklärt er bescheiden errötend, haben ihm die zehn populärsten Popbands der Stadt ein freiwilliges Open-air-Solidaritätskonzert versprochen. Der akkurate Schkakin vergißt hinzuzufügen, daß die Bandleader schon lange von einem gemeinsamen Konzert geträumt hatten, aber nie den Raum dafür bekamen.
Zwischen den Betonburgen eines Tscherepowjezer Wohnviertels skandieren an diesem Abend etwa tausend Jugendliche auf die Aufforderung ihrer Bandleader hin dankbar: „Jelzin, Jelzin!“ Im Winter hätten sie von solch einem Szeneereignis nicht zu träumen gewagt. Zum Glück geht's dem Sommer entgegen. Und am Sonntag wählen die TscherepowjezerInnen das in ihren Augen „kleinere Übel“. Ohne großen Enthusiasmus.
Für die statistischen Angaben danken wir dem „Regionalen wissenschaftlich-methodischen Zentrum zur Erforschung sozialer Probleme“, Tscherepowjez
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