: Die Hände über dem Bauch gefaltet
■ Der Bundestagswahlkampf 1987 ist tödlich langweilig, entschieden wird nichts, weil die Entscheidung für Kohl schon gefallen ist / Das jedenfalls meint Udo Knapp, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsfraktion der Grünen
Langeweile, in den Kneipen kein Geschrei, eigentlich sind alle sehr zufrieden; albern, oft auch dieses grüne Hinterzimmerfunktionärsgequatsche. Pflichtübung vor denen, die uns sowieso wählen; Wahlkampf 1987, keiner hat was zu verlieren und niemand etwas zu gewinnen; Kohl kommt wieder, Antje kommt wieder, Rau bleibt weg, Frau Adam–Schwaetzer kriegt die Frauen in die Bundeswehr und das bundesdeutsche Volk faltet die Hände über dem Bäuchlein... Wahlkampf 87 wird so zumUrlaub von der Politik - spannend wird es erst wieder im Februar; denn Wackersdorf wird weitergebaut, die Null–Lösung ist weit weg und die Fremdherrschaft der Amerikaner verhindert, daß wir endlich eigene Atomwaffen haben können, die Arbeitslosenzahlen steigen, Hitler wird rehabilitiert, die SPD pflegt sich und ihr zwangskollektivistisches Wohlfahrtsstaatstrauma und Joschka weiß immer noch nicht, wohin mit dem Müll... Die Mehrheit im Land ist weder apathisch noch verführt, nein, unsere geliebten Mitbürger wollen die Kohlsche Politik und keine andere. Warum? Viele Gründe und ein entscheidender: Weil uns niemand glaubt, daß wir die Katastrophen, die uns bedrohen, wirklich abwenden wollen und zugleich mehr Faulheit, Fettleibigkeit, Freiheit und Gerechtigkeit für alle - zumindest theoretisch - zulassen wollen; weil unsere Zukunftsverheißungen nach Zuchtmeisterei oder ökologistischem Rigorismus anstatt nach „Gutem Leben“ riechen. Mich ekelt oft vor der Menschheit, weil sie so viele Menschen in die Verzweiflung treibt, Kriege duldet und Kinderleid, aber die Menschen handeln doch nicht unvernünftig, wenn sie den bequemen Weg für sich wählen, auch wenn der Preis dafür leere Herzen, verlorene Liebe, Terror, Rache, Mord und Todesstrafe, immer neue verlorene Generationen und enttäuschte Hoffnungen sind. Die Chancen für uns Träumer, verwegene, auch ängstliche Einzelne und die Grünen, den lebensverachtenden Realismus so vieler Menschen zu erschüttern, sind größer, als es in diesem Wahljanuar 1987 erscheint. Die Technokraten, die Glücksversprecher, die auf ihre Ergebnisse schwörenden Wissenschaftler, diese Sozialdemokraten, diese männlich–omnipotenten „Wir wissen schon, wos lang geht“–Strategen, haben im öffentlichen Bewußtsein keine Konjunktur mehr. Wenn die radikalen Bewegungen in den letzten zwanzig und die Grünen in den letzten vier Jahren etwas erreicht haben, dann vor allem die Demonstration und Festigung des unbeugsamen Willens, gerecht und ehrlich, auch eitel, streitsüchtig und manchmal sogar selbstkritisch einer Kultur selbstbestimmten Experimentierens bei der Bewältigung der Menschheitsprobleme Platz zu brechen. Aufregendste Erfahrung dabei: Wir können nicht nur am besten opponieren, sondern auch regieren. Wenn die neue Fraktion, die nach Bonn kommen wird, diese Fähigkeit in ihrem politischen Auftreten und Handeln im Parlament vorführt, dann ergibt sich für uns alle wie von selbst mein persönlicher Fahrplan für die nächsten vier Jahre: Das Verhältnis: SPD/Grüne verkehren wir in das Verhältnis Grüne als größte Oppositionspartei in der BRD und die SPD wird unser Juniorpartner. Erster Schritt Landtagswahl in Hessen. Hier wird im nächsten Herbst die Koalition gefestigt, und die Grünen werden den Bereich der Sozial– und Frauenpolitik praktisch besetzen. Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin 1989 kann die Alternative Liste mit 30 Prozent der Stimmen der Berliner stärker als die SPD mit ihr als unserem Koalitionspartner Otto Schily zum Bürgermeister wählen und uns allen vorführen, wie aufregend, anstrengend und beglückend die Durchsetzung von Freiheit und Gerechtigkeit auch in der BRD sein können. Und dann erst bei den Bundestagswahlen 1991 - glaubt irgendjemand ernsthaft, daß dieser Mini– Grüne Herr Lafontaine gegen Waltraud Schoppe irgendeine Chance hat? Guten Morgen Waltraud, Frau Kanzler(in)? Jaja, ich höre die Hamburger, Kassandra–Schreie: Schwarze, Schwarze, absolute Mehrheit / ewig, ewig, sollst du opponieren; Aber Äeneas hat die Teilnahme an der Untergangsschlacht Trojas klug verweigert und stattdessen Rom gegründet! Wieso soll es eine solche Chance für uns alle nicht geben?
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