■ Die Globalisierung zwingt zu einer Revolution des Lernens. Belehrungskulturen werden von Dialogen abgelöst: Ein Wagnis für Herrschaft jeder Art
„Man sollte nicht mehr lernen, als man unbedingt gegen das Leben braucht“, riet Karl Kraus und hat damit die verkehrte Welt der Bildung auf den Begriff gebracht. Oberstufenschüler würden sogar das Telefonbuch auswendig lernen, wenn man ihnen dafür Punkte im Abitur verspricht. So gewöhnen sie sich daran, Masken des Wissens zu tragen. Verwahrlosung auf hohem Niveau. Mit Verwahrlosung auf niederem Niveau machen die von sich reden, deren Chancen fallen. In Metropolen wie Deutschland studiert jeder dritte und wird fast 29, bis die Uni ihn wieder freigibt. In der Dritten Welt leben mehr als eine Milliarde Analphabeten. Gegen die produzierte Gleichgültigkeit der einen und gegen den Ausschluß der anderen soll nun Bildung helfen.
Die Kritik an den Bildungssystemen häuft sich. Zum Beispiel monierte kürzlich der Siemens-Direktor für Zukunftsfragen, Helmut Volkmann: „Unser Problem liegt in der Mentalität der Menschen. Sie haben keine Wünsche und keine Vorstellungskraft.“ Auch die Bildungsminister des Industrieländerclubs OECD verlangen eine neue Bildungsphilosophie, die Menschen anstacheln soll, selbst etwas zu wollen. Denn diejenigen, denen man beigebracht hat, Lernen mit Konditionierung zu verwechseln, versagen die allseits verlangten, postindustriellen Rohstoffe: Wissen, Kreativität und Selbständigkeit. Der Kapitalismus, der in seiner nachindustriellen Phase von materiellen Ressourcen auf die des menschlichen Geistes umschalten muß, hat ein Verwertungsproblem. Er muß zwischen einer ihm diese Ressourcen versagenden Gleichgültigkeit und einem Empowerment der Basis wählen, von dem niemand weiß, ob er es verkraftet.
Auch bei der nicht gerade aufregenden und dennoch spannenden Unesco-Weltkonferenz über Erwachsenenbildung, zu der sich kürzlich in Hamburg zweitausend Delegierte aus aller Welt, darunter sechzig Bildungsminister, trafen, fielen all die wohlfeilen Worte über das nun anbrechende Zeitalter des Lernens, das unser verborgener Reichtum sei. Eine Agenda für die Zukunft des Lernens, die sogenannte Hamburger Erklärung, soll für die Bildung das werden, was die von Rio für die Umwelt ist oder hätte werden sollen. Nichts veraltet heute schneller als Wissen; es bloß zu akkumulieren macht sowenig Sinn wie die ermüdenden und zeitraubenden Rituale des Lernens auf Vorrat.
Wir stehen am Anfang einer Revolution des Lernens, hörte man in Hamburg. Das sind nicht nur Propagandasprüche. Denn die Globalisierung, die weltweit alles Stehende und Ständische auflöst, hat verschiedene Seiten. Ihre Beschleunigung führt dazu, daß Zukunft immer weniger die Wiederholung der Vergangenheit sein wird. Lernen muß explorativer werden. Einschwören auf das Bisherige taugt nicht mehr. Zukunft läßt sich nicht per Bereicherung erfinden. Die Chance: Belehrungskulturen werden von Dialogen abgelöst, in denen – das steht außer Frage – die Erwachsenen den Kindern etwas zu geben haben, durch die sich aber auch Erwachsene von ihren Kindern mit Neugier anstecken lassen.
In der vorindustriellen Dritten Welt, deren Delegierte aus 150 Ländern den Kongreß prägten, hat dieser Wandel andere Formen als in den spätindustriellen Metropolen, aber er folgt einer verwandten Grammatik. Denn jene Alphabetisierungsprogramme, die bisher weitgehend die internationale Bildungspolitik der Unesco bestimmten, haben die Dritte Welt rigoros auf die Schulbank gesetzt. Sie sollte nachsitzen und unsere entmündigende und ermüdende Lernkultur übernehmen. Das machen viele dieser Länder nicht mehr mit, zumal die meisten dieser Programme gescheitert sind. Das neue Schlagwort heißt nun „human development“. Lernen soll sich mit Tätigkeiten verbinden, durch die Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Lernen wird zugleich ausgeweitet und aus seinem Ghetto befreit. Natürlich geht das leichter über die Lippen als in der Praxis. Aber keine Frage: Wir sind Zeugen, wie Lernen seinen Sinn verändert. Nicht mehr nachsitzen, sondern Vorreiter werden, nicht mehr unterrichten, sondern aufrichten. Geht ein Zeitalter zu Ende?
So weit, so schön, so gut – fast zu schön, um wahr zu werden, denn diese neue Art von Bildung wird zum Wagnis für Herrschaft jeder Art. Wenn die aufregende Dialektik der Globalisierung überkommene Belehrung zwingt, sich dialogischem Lernen zu öffnen, und wenn künftig mehr vom Witz des Anfängers, der Neues wagt, gefragt sein wird, entstehen Lücken, die Angst machen. In diese stopft die Industrie nun geballte Technologie: Computer als Lernmaschinen. Eine indische Delegierte meinte, Computer seien das Mantra der ermüdeten westlichen Zivilisation. Dabei lehnt diese Inderin Computer nicht ab. Sie plädiert für das Werkzeug, aber sie trifft den wunden Punkt: die Neigung unserer Kultur zu Fetischen und zu Prothesen aus Mißtrauen gegenüber Menschen und ihrer Entwicklungsfähigkeit. Mißtrauen eigentlich eines jeden gegenüber sich selbst. Die Vermeidung der Lücke, der Leere, die wir – oft süchtig nach Antworten – mit dozierender Lehre füllen, könnte sich bald als die ärgste Schwäche des Westens erweisen.
Besonders schwer fällt der Übergang zu einer anderen Bildung dem Industrialisierungsweltmeister Deutschland. Irgendwie weiß jeder, mehr Geld für Schulen und Hochschulen, so wie sie sind, heißt, den knappen Wein in verrottete Schläuche zu pumpen. Andererseits wird mit der proklamierten und tatsächlich notwendigen „Kultur der Selbständigkeit“, der Abtragung von Hierarchien und dem Aufbau „aktiven Vertrauens“ (Anthony Giddens) nicht begonnen. Rhetoriker der Bildung, wie Roman Herzog und Jürgen Rüttgers, können diese Kultur selber nicht leben bzw. zulassen. Das ist nicht ihre Welt. So werden alle Löcher mit aufgequollener Rhetorik gestopft. Statt zu handeln, werden Zeitalter verkündet: „Aufbruch in die Informationsgesellschaft des 21.Jahrhunderts“.
Real tut sich indessen nichts oder weniger. Während der Bundeshaushalt wächst, ist der für Bildung in den vergangenen Jahren geschrumpft, und der Anteil von Forschung am Bruttosozialprodukt ist von 3 auf 2,2 Prozent gefallen. Die Wirtschaft drosselt ebenfalls ihren Aufwand für Forschung und Entwicklung und hat jede sechste Lehrstelle in den vergangenen Jahren gestrichen. Wie gesagt, mit dem Übergang von der industriellen zur nachindustriellen Gesellschaft bekommt der Kapitalismus ein neues Bildungsproblem. Reinhard Kahl
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