Die Gleichzeitigkeit des Ungeheuerlichen

■ Walter Kempowski über den noch unveröffentlichten Teil seiner Kriegschronik „Echolot“, den der Autor vorgestern in Hamburg vorstellte

Als „kollektives Tagebuch“bezeichnete der Schriftsteller Walter Kempowski 1983 sein Archivierungsprojekt Echolot. Zehn Jahre später erschienen die ersten vier Bände, eine Sammlung von Texten und Lebenszeugnissen, die zwischen dem 18. Januar und 28. Februar 1943 entstanden waren. Am Donnerstag stellte der 67jährige in der Freien Akademie der Künste vor gut 300 Hörern die noch unveröffentlichte Fortsetzung des Projekts vor, eine Dokumentation des Zeitraums vom 12. Januar bis zum 20. April 1945. Unter dem Titel Fuga furiosa soll diese „Dokumentation der Gleichzeitigkeit, in der das Privatleben neben dem Verrecken steht“in vermutlich fünf Bänden Ende 1998 erscheinen.

taz: Sie haben insgesamt fünftausend Lebensberichte gesammelt und über die Jahre ein riesiges zeitgeschichtliches Archiv angelegt. Weshalb sind Sie so erinnerungssüchtig?

Walter Kempowski: Menschen ohne Erinnerung sind orientierungs-los. Wenn man die Vergangenheit betrachtet, dann bekommt man ja sehr viele Antworten für die Gegenwart! Immer wieder denke ich an die verlorenen Seelen, an Menschen, die früher lebten, die nun vergangen sind, und die Erzählbrücke ist abgebrochen – und sie haben uns doch viel zu erzählen.

Sie schreiben also gegen das Vergessen?

Ich sehe mich als Vertreter einer „Literatur der Objektivität“. Man nimmt heute eigentlich nur noch die großen Bewegungen wahr, und ich frage immer nach dem Einzelnen. Man spricht zum Beispiel von Flucht und Vertreibung – darauf reduziert sich das Erlebnis von Millionen Menschen!

Mir scheint, als grundiere das Echolot bzw. die ihm zugrundeliegenden Quellen Ihre Romane, als bilde es deren Fundament. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Ihrem literarischen und Ihrem dokumentarischen Werk?

Ich war lange abgestempelt als Halbidiot, weil ich humorvoll geschrieben habe. Seit dem Echolot ist das anders. Es gibt zwischen meiner Familienchronik und dem Echolot ein Wechselspiel: Das eine ist mehr subjektiv erzählt, und das andere ist eine Versammlung der Vielen – dadurch bekommt es einen objektiven Charakter.

Die Fuge bedeutet ja einerseits der Kanon, andererseits bedeutet fuga aber auch Flucht auf lateinisch. Es ist also beides gemeint. Fuga furiosa schildert die große Flucht der Menschen im Frühjahr '45. Es ist also keine Fuge, bei der man sich genießerisch zurücklehnt – die Furien haben hier das Sagen.

Wann setzt die Fuga furiosa ein?

Ich beginne am 12. Januar '45 mit dem Trommelfeuer der Roten Armee auf die ostpreußischen und schlesischen deutschen Stellungen und ende mit dem 20. April, dem Geburtstag Hitlers, an dem er noch in der halbzerstörten Reichskanzlei seine Getreuen empfangen und sich anschließend in den Keller verabschiedet hat. Das ist für mich der Schluß dieses großen Panoramas.

Wenn die fünf Bände 1998 erscheinen, wie wird deren dokumentarisches Material dargeboten?

Ich selber will ja nicht kommentieren. Aber was spricht denn dagegen, wenn ich als Vergleich neben eine historische Begebenheit kontrastierende Informationen abdrucke? Die Fuga furiosa soll zweispaltig sein. Wenn ich beispielsweise den Bombenangriff auf Oranienburg schildere, mit den Augen des KZ-Häftlings Nansen, Ott Nansen, dem Sohn des berühmten Polarforschers, dann steht daneben die Zeitungsmeldung, daß man 1997 dort eine 5-Zentner-Bombe ausgebuddelt hat – mehr als fünfzig Jahre danach.

Denkt der rastlose Sammler Kempowski bereits über Fuga furiosahinaus?

Sicher! Die Fuga furiosa ist eine Talfahrt und die große Schilderung des Frühjahrs '45. Zum Kriegsende, den Mai-Tagen 1945, wird es eine extra Publikation geben: Endsiege. Stark beschäftigt mich noch der Krieg außerhalb Deutschlands, der in Fernost. Deshalb habe ich einen Echolot-Band geplant mit dem Titel Der andere Krieg.

Wächst sich das riesige Echolot-Projekt mit der Fuga furiosa und den geplanten Folgebänden zu Ihrem Hauptwerk aus?

Ja, aber die Gründung des Archivs 1980 ist wohl meine schönste Tat – der Gedanke, alle meine Tantiemen, alles, was ich mit den Romanen verdient habe, in den Aufbau und die Erhaltung des Archivs zu stecken, das ist wunderbar, das ist wie ein Perpetuum mobile.

Fragen: Frauke Hamann