: Die Geschichte junger Opfer
■ Zu der Ausstellung "Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben", die sich im DGB-Haus mit dem Schicksal Jugendlicher in Konzentrationslagern beschäftigt
Katharina Anders bewies Courage in einer Zeit, in der die meisten Deutschen schwiegen. Sie beschimpfte den Leiter des Erziehungsheimes, in das man sie eingesperrt hatte, als „Nazi-Schwein“, sie zerriß Hitler-Bilder und verteilte Zettel mit der Aufschrift „Heil Moskau“. Ihr Hang zur Rebellion wurde der Siebzehnjährigen zum Verhängnis. Nach diversen Aufenthalten in Heimen und im Gefängnis wiesen die Nazis sie 1941 in das Jugend-KZ Uckermark ein.
Was sie und die etwa 3.000 anderen Häftlinge dort und in dem weiteren Jugend-KZ Moringen durchmachten, drang lange Zeit nicht an die Öffentlichkeit. Bis in die achtziger Jahre interessierte sich kaum jemand für die Konzentrationslager, in denen SS und Polizei Jungen und Mädchen im Alter zwischen zehn bis 25 Jahren mißhandelten. Eine Ausstellung zu dem Thema, die noch bis zum 28. Februar im Foyer des DGB-Hauses zu sehen ist, erzählt die vergessenen Schicksale der Jugendlichen.
Die Jungen und Mädchen wurden aus unterschiedlichen Gründen in die KZs eingewiesen: weil sie den HJ oder BDM-Dienst verweigerten, weil sie Juden, Sinti oder Roma waren, weil sie eine Liebesbeziehung zu einem Ausländer hatten oder weil sie gerne Swing und Jazz hörten. Die Vorliebe für diese Musik wurde Günther Discher zum Verhängnis: Er ließ sich verbotene Jazzplatten von Freunden im Ausland schicken und verkaufte sie weiter. Grund genug für die Nazi-Schergen von der Gestapo, ihn im KZ Moringen einzusperren. Günther Discher überlebte die sadistischen Quälereien und Mißhandlungen der Lageraufseher. Viele andere nicht. Sie verhungerten, viele starben an Typhus, Tuberkulose und Ruhr oder nahmen sich das Leben. Andere entkamen dem Jugend-KZ mit schweren körperlichen und seelischen Schäden.
Schade nur, daß die Aussteller das Thema teilweise stiefmütterlich behandeln. Die aufgestellten Bildtafeln verwirren den Besucher, weil deren Reihenfolge nicht stimmt. Die Fülle der klein(st)gedruckten Texte stellt höchste Ansprüche an die Konzentrationsfähigkeit. Schade auch, daß die Veranstalter der Ausstellung, unter ihnen der ehemalige KZ-Häftling Wolfgang Grunewald, keine Originalfotos und -dokumente zeigen.
Grunewald gründete Ende der 80er Jahre einen Verein, der zur Kontaktstelle für die Überlebenden von Moringen wurde. Gemeinsam mit Martin Guse und Andreas Kohrs erarbeitete er die Ausstellung. Guse hatte Grunewald zufällig während seines Studiums kennengelernt. Bei ihren Recherchen zu den Jugend-KZs stießen sie vielerorts auf Widerstand. So versuchte man beispielsweise in der Stadt Moringen, die eigene Vergangenheit zu verdrängen. Die Chronik der Stadt „1000 Jahre Moringen“, in der das KZ kaum erwähnt und die Toten verschwiegen wurden, erregte weltweit Proteste. Schließlich duldete man Guse in der Stadt und ließ ihn recherchieren. Die langwierigen Nachforschungen in Archiven in ganz Europa verschlangen eine Menge Geld. Erst 1990 erhielten Guse und seine Mitarbeiter finanzielle Hilfe vom DGB. Annabel Wahba
Die Ausstellung „Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben“ ist im Foyer des DGB-Hauses Montag bis Freitag von 8 bis 19 Uhr zu sehen. Keithstraße 1–3, Schöneberg.
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