„Die Gefahr kommt aus allen Richtungen“

Hanin al-Sayed (27), Medienschaffende, ist nach Nordidlib geflüchtet. In ihrer Heimat hat sie Proteste gegen Assad organisiert. Nun fürchtet sie den Vormarsch seiner Truppen

„Ich komme aus Ma’aret Hurma, was sehr nahe an den Gebieten liegt, die von den Streitkräften des syrischen Regimes unter Kontrolle gebracht worden sind. Ich habe das Gebiet vor zehn Monaten verlassen und lebe jetzt in Dana nahe der syrisch-türkischen Grenze. Ich habe mein Haus verlassen, nachdem das Gebiet vom Regime bombardiert wurde. Die Flucht war schwierig, weil es keine Lastwagen gab. Also gingen wir nach und nach: ich und meine Geschwister zuerst, dann mein Vater und meine Mutter.

Ich war Studentin an der Universität von Aleppo und war eine der Organisatoren friedlicher Demonstrationen gegen das Regime. Mit Worten kann ich meine Gefühle heute nicht beschreiben. Wir haben alles aufgegeben. In nur zwei Jahren musste ich in mehr als zehn Wohnungen Zuflucht nehmen. Ich konnte meine Sachen nicht mitnehmen. Jedes Mal, wenn wir in ein neues Haus gehen, werfe ich alles weg.

Ich habe Angst vor dem Vormarsch der syrischen Armee, Angst um meine Familie und meine Geschwister. Ich weiß nicht, was wir tun, wenn sie näher kommt. Ich habe keinen anderen Plan, als mit meinem Verlobten in die Türkei zu fliehen. Denn die Gefahr kommt aus allen Richtungen, nicht nur vom Regime, sondern auch von islamistischen Gruppen wie Ahrar al-Scham. Mein Verlobter und ich müssen jetzt so schnell wie möglich heiraten, damit wir zusammen reisen können. Wir müssen viel Geld bezahlen, um in die Türkei zu reisen, aber wir haben keine Alternative.

Ich vertraue weder irgendeiner oppositionellen Gruppe noch dem Regime. Wir leben in Gefahr, es drohen Massaker. Wir Zivilisten und Aktivisten wollen immer noch ein freies Leben. Wir hatten mit all diesen islamistischen Gruppen nicht gerechnet und wollten die Revolution nicht mit religiösen Ideen vermischen. Aber hört irgendjemand unsere Stimmen? Unsere einzige Schuld ist, dass wir ein anständiges Leben wollten. Wir haben die Universität als Studenten verlassen, um Nein zu sagen zu Ungerechtigkeit und Korruption. Der Preis dafür war hoch – und er ist es weiterhin.

Ich hoffe, dass die europäischen Länder sich bewegen und uns helfen, die Bombenangriffe zu stoppen und einen sicheren Fluchtkorridor zu schaffen. Allen, die meine Worte lesen, möchte ich sagen, dass wir wie sie Menschen sind. Auch wir lieben das Leben, wir feiern gern, tanzen und singen. Wir tragen keine Schuld an all dem, was passiert.“

Protokoll: Hiba Obaid

Übersetzung:

Jannis Hagmann