: Die Gedanken der Anderen
Der Traum von der Gedankenübertragung ist so alt wie die Menschheit. Seit 150 Jahren forscht der Mensch an Telepathie. Kommt mit KI der Durchbruch?
Von Adrian Lobe
Vom amerikanischen Bestsellerautor Stephen King stammt das Zitat: „Schreiben ist Gedankenübertragung.“ So könne man Gedanken und Gefühle von einem Geist zum anderen übertragen. Echte Telepathie ist das freilich nicht. Noch immer ist man auf das Medium angewiesen, das Buch oder E-Book, die Zeitschrift oder Internetseite, die Social-Media-Plattform. Doch möglicherweise dauert es nicht mehr lange, bis Geschichten telepathisch erzählt werden.
So haben Forscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT) kürzlich ein Gerät vorgestellt, mit dem Nutzer „still“ – das heißt, ohne zu sprechen – mit Computern kommunizieren können. Das „beinahe-telepathische“ Wearable, das in Kooperation mit dem Bostoner Start-up Alterego entwickelt wurde und wie eine Art Hörgerät am Kopf getragen wird, erkennt neuromuskuläre Signale im Gesicht, etwa kleine Lippen- und Kehlkopfbewegungen, die dann von einer Software in Worte konvertiert werden. So können Menschen, die an Multipler Sklerose (MS) oder Motoneuronerkrankungen leiden und Schwierigkeiten bei der Kommunikation haben, Gedanken artikulieren.
Aber auch gesunde Menschen können die Technik nutzen, etwa für Smartphone-freie Googlesuchen oder KI-Anfragen. Man murmelt einfach etwas vor sich hin, schon präsentiert die KI das gewünschte Ergebnis. Kein Tippen, kein Klicken, kein Wischen. Nur mentale Hygiene.
Der MIT-Informatiker Arnav Kapur, der schon seit einigen Jahren an der Technik forscht, spricht von einem „revolutionären Durchbruch“: Das Gadget gebe Nutzern die „Macht der Telepathie, aber nur für die Gedanken, die man auch teilen will“. Wer braucht noch Sprachsteuerung, wenn es Gedankensteuerung gibt? Alexa ist tot, es lebe die Telepathie! Die vollmundig verkündete „voice revolution“? Vorerst abgesagt.
Seit einigen Jahren tüfteln Wissenschaftler auch an Gehirn-Computer-Schnittstellen, die aber – im Gegensatz zu dem am MIT entwickelten Gerät – in der Regel auf Gehirnscans basieren. So haben Forscher der University of Texas 2023 einen Decoder entwickelt, der mithilfe von Magnetresonanztomografie (MRT) Gedanken ausliest. Während die Probanden in der tackernden Röhre lagen und Podcasts hörten, zeichnete das MRT Veränderungen im Blutfluss im Gehirn auf. Mithilfe des Sprachmodells GPT-1 – einer Basicversion von Chat-GPT – wurden die Hirnscans mit den Transkripten der Podcasts verglichen. Die KI lernte dabei, in den Hirnaktivitäten bestimmte Muster zu identifizieren und diese mit den Wortfolgen zu verknüpfen. In einem zweiten Schritt wurden denselben Versuchsteilnehmern andere Hörbuchpassagen ausgespielt und wieder Gehirnscans angefertigt. Nun bekam die KI lediglich die Scans vorgelegt und übersetzte diese in Sprache – mit erstaunlicher Genauigkeit: Die decodierten Texte der KI lasen sich wie eine Paraphrase der Originaltranskripte. Wird die Science-Fiction-Vision des „Gedankenlesens“ („mindreading“) mit KI Wirklichkeit?
Der Traum von der Gedankenübertragung ist so alt wie die Menschheit. Seitdem der Wissenschaftler Frederic W. H. Myers den Begriff der Telepathie 1882 prägte, widmen sich Forscher verschiedener Disziplinen dem Phänomen. In der Weimarer Republik versuchte die Polizei, im Rahmen der „Kriminaltelepathie“, durch die Hinzuziehung von Hellsehern Verbrechen aufzuklären. 1971, während der Apollo-14-Mission, führte der Astronaut Edgar Mitchell ein unautorisiertes Telepathie-Experiment durch: Er schickte vier Freunden auf der Erde den Inhalt von Zener-Karten. Die Karten zeigen Symbole wie ein Pluszeichen oder ein Quadrat und werden in der Parapsychologie verwendet, um übersinnliche Fähigkeiten zu testen. In Mitchells Versuchsreihe errieten zwei der vier Teilnehmer die nummerierten Karten teils korrekt, was aber mehr für den Faktor Zufall als die Zustellzuverlässigkeit von Gedankennachrichten spricht.
Trotz zahlreicher Studien ist Telepathie nie aus der Esoterik-Ecke herausgekommen. Doch die Faszination an paranormalen Phänomenen, die sich auch in der Popkultur, etwa in TV-Formaten wie „The next Uri Geller“ oder dem erfolgreichen Podcast „Telepathy Tapes“ widerspiegelt, ist ungebrochen – und lenkt das öffentliche Interesse auf die Forschung.
Auch Elon Musk tüftelt mit seinem Start-up Neuralink an Hirn-Computer-Schnittstellen: 2024 wurde dem querschnittsgelähmten Patienten Noland Arbaugh ein Chip implantiert, der Gedanken in Computersignale überträgt. Mit dem Chip konnte der junge Mann ein Tablet bedienen, Nachrichten verschicken und sogar Videospiele spielen. Es ist kein Zufall, dass Musk die Begriffe „Telepathy“, „Telekinesis“ und „Blindsight“ beim US-Patentamt markenrechtlich schützen wollte, was die Behörde jedoch ablehnte. Der milliardenschwere Unternehmer will nach eigenen Angaben in der nächsten Dekade Millionen Chips in die Köpfe der Menschen einpflanzen. Ein Plan, der so gruselig und dystopisch klingt, dass man annehmen muss, dass es hier nicht nur um die Sprechfähigkeit und Partizipation von Gelähmten geht, sondern auch um den transhumanistischen Fiebertraum des „human enhancement“: Der verchippte, upgegradete Mensch kann mehr Inhalte in sein Gehirn „uploaden“ und noch mehr konsumieren.
Big Tech versucht schon länger, die Köpfe der Menschen zu „hacken“. Manipulative Designs, die in Online-Portalen Knappheiten und Eile simulieren, lassen willfährige Menschen auf allerlei Knöpfe drücken, obwohl sie dies vielleicht gar nicht wollen. Facebook weiß, was uns gefällt, und Spotify kennt anhand gestreamter Songs die emotionalen Gemütszustände seiner Nutzer. Allein: Die Informationsübertragung ist über Tastaturen, Displays und letztlich Sprache vermittelt – und damit langsam. Facebook hat daher schon vor einigen Jahren mit der Entwicklung eines Hirnimplantats begonnen, mit dessen Hilfe Menschen fünfmal schneller als mit dem Smartphone „tippen“ können – bis zu 100 Wörter pro Minute. „Jede Sekunde produziert unser Gehirn so viele Daten wie vier HD-Filme“, sagte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. „Das Problem ist, dass die beste Methode, die wir haben, um Informationen in die Welt zu übertragen – die Sprache – nur etwa so viele Daten übermitteln kann wie ein Modem aus den 1980er Jahren.“
Für die radikalen Materialisten im Silicon Valley ist Sprache ein veraltetes technisches System. Sprachmodelle wie Chat-GPT sind daher nur eine Zwischenlösung für direktere Formen der Kommunikation wie etwa Telepathie oder „Braintyping“. Geht es nach den Tech-Vordenkern, werden wir in Zukunft nicht nur Texte, Bilder und Videos teilen, sondern auch – in einer Art „Internet of Brain“ – Gedanken und Gefühle. Die Privatsphäre wäre damit faktisch abgeschafft.
Doch diese Vision – oder besser gesagt: Dystopie – verschalteter Menschen- und Elektronengehirne ist noch meilenweit von der Realität entfernt. Das „Braintyping“-Projekt von Facebook, in das der Meta-Konzern rund zwei Milliarden Dollar investiert hat, wird das Labor wohl nie verlassen. Der Grund: Die Fehlerrate liegt bei 32 Prozent – der Decoder interpretiert im Schnitt jeden dritten Buchstaben falsch. Die Gedanken sind für die KI noch nicht voll lesbar. Vielleicht ist dies am Ende eine beruhigende Nachricht.
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