■ Vorlesungskritik: Die Entthronung der Wissenschaft
In den meisten Geistes- und Sozialwissenschaften kann man mangels Berufsaussichten davon ausgehen, daß nur solche Studenten ihre Zeit für eine Vorlesung opfern, die sich für das Dargebotene auch wirklich interessieren. Bei einer Jura-Vorlesung dagegen handelt es sich um eine für den Dozenten wie für die Studenten gleichermaßen quälende Prozedur, bei der sich ein Erkenntnisgewinn häufig schon wegen des Lärmpegels nicht einstellen mag. Rosemarie Wills Grundkurs im Öffentlichen Recht bildet da eine gewisse Ausnahme. Weil sie vergleichsweise ausführlich auf rechtspolitische Fragen eingeht, die keinen unmittelbaren Nutzen für die Klausuren versprechen, herrscht schon mangels Masse eine eher ruhige Atmosphäre.
Es ist Wills erstes Berliner Semester nach der Rückkehr vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, wo sie als erste ostdeutsche Juristin der rein westdeutschen Richterriege neufünfländisches Rechtsempfinden vermitteln sollte. Dazu schien sie besonders prädestiniert, weil sie im September 1989 als Dozentin an der Humboldt-Universität in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie einen Aufsatz veröffentlicht hatte, in dem sie den DDR-Gewaltigen „Rechtsstaatlichkeit als Moment demokratischer politischer Machtausübung“ nahezulegen suchte. Am Runden Tisch arbeitete sie am Verfassungsentwurf mit und organisierte als Dekanin die Neustrukturierung ihres Fachbereichs, an deren Ende ein fast nur mit West-Professoren besetzter Lehrkörper stand.
„Die Grundrechte und das Bundesverfassungsgericht“ knöpft sich Will in dieser Doppelstunde vor. Der Blick hinter die Kulissen scheint sie nicht eben überzeugt zu haben. Offenkundig ist ihr die rechtsstaatliche Leine, an die sie die Politik in der DDR einst legen wollte, in der Karlsruher Rechtsprechung allzu kurz geraten. Mit der Ausdehnung der Grundrechte von subjektiven Abwehrrechten gegen den Staat zu „objektiven Grundsatznormen“ im „Lüth-Urteil“ von 1958 habe das Bundesverfassungsgericht einen Weg beschritten, der letztlich zur Aushebelung der parlamentarischen Demokratie führe. Auch habe sich die Wissenschaft im Staatsrecht anders als im Zivil- und Strafrecht von der höchstrichterlichen Rechtsprechung „entthronen“ lassen, statt „vorausschauend gesellschaftliche Probleme aufzugreifen“.
Wie etwa die Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch und zum schnellen Brüter in Kalkar zeigten, überschritten die Verfassungsrichter ihre Kompetenz „aus ganz unterschiedlichen politischen Beweggründen“. Daß es dafür auch juristische Gründe geben könnte, erwähnte Will nicht. Auch führte sie die „Entthronung“ der Staatsrechtswissenschaft darauf zurück, daß die „herrschende Schicht“ nicht mehr auf die Wissenschaft, sondern auf politische Macht setze. In diesem Gestus, die roten Roben als bloße juristische Deckmäntelchen zu denunzieren, steckt noch die von Will 1989 kritisierte Tendenz, alles auf eine bloße „Machtfrage“ zu reduzieren. Dabei haben doch gerade diese Mäntelchen in der Bundesrepublik stets jenen Konsens gestiftet, der im Osten so begehrt ist. Ralph Bollmann
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