: Die Einstellung der Strickeproduktion
■ Flüchtige Notizen vom Europa-Gipfel am 8. Dezember 1999
Die Sicherheitsmaßnahmen liefen gestern zum ersten Gipfeltreffen der neuen europäischen Ordnung — „Euro-Rat 99“ — auf Hochtouren in der deutschen Hauptstadt (Oggersheim wurde 1997 zur deutschen Hauptstadt erhoben, weil die Umzugskisten zwischen Bonn und Berlin auf der Strecke geblieben waren). Präsidentengattin Hannelore von Deutschland hieß die 97 Innenminister der Reiche und 3.500 Euro-Beamten herzlich willkommen. Besonders lobend erwähnte sie den volksnahen Charakter der Eröffnungsfeier.
Große Spannungen werden bei den Verhandlungen über die Wiedereinführung der Todesstrafe in ganz Europa erwartet. Gerade an diesem Punkt gehen die Meinungen der Delegierten weit auseinander. Während die katholischen Fundamentalisten aus dem Süden immer noch die öffentliche Steinigung bevorzugen, setzen sich die bürgerlichen Kräfte aus Mittel- und Nordeuropa für die Beibehaltung des 1996 eingeführten Tod durch den Strick ein. Eine einheitliche Regelung scheint in dieser Frage nicht in Sicht. Letzte Woche forderte Papst LechI. die katholischen Delegierten zur Besonnenheit auf und empfahl ihnen, den Protestanten in dieser Grundsatzfrage entgegenzukommen. Deutschland bat er, darüber nachzudenken, ob bei Verstößen gegen den Paragraphen 218 grundsätzlich die Todesstrafe verhängt werden sollte. Der deutsche Innenminister Gauweiler bezeichnete das als Gefühlsduselei und wies auf die 10.000 Arbeitsplätze in der Strickeherstellung hin, die gefährdet seien.
Als wenig human und ziemlich rücksichtslos bezeichnete der norwegische Innenminister das Vorgehen der englischen Regierung, die Niedrigverdiener auf Bohrinseln in der Nordsee abschiebt — angesichts der Tatsache, daß die Nordsee demnächst an finanzkräftige Privatleute verkauft werden soll, die sich bei ihren Regattas durch den Anblick solcher Randfiguren gestört fühlen könnten.
Die Flüchtlingsfrage dürfte bei diesem Gipfel keine Rolle spielen, da sich nach Informationen des Europäischen Grenzschutzes das Problem weitgehend von allein löst. Nach dem Bau der von Robotern geschützten Anti-Armuts-Grenze (der riesige elektrische Zaun um ganz Europa) hat das Interesse der Nicht-Weißen an der alten Welt stark nachgelassen. „Es ist ein Zeichen der Zeit, sich seiner Herkunft zu besinnen“, sagte der französische Innenminister Le Pen in einem Interview des deutschen Nachrichtenmagazin 'Heimat‘. Das hätten jetzt auch die Armen aus der dritten Welt festgestellt.
Der erste Tag des farbenfrohen Gipfels klang traditionsgemäß mit einem ökumenischen Gottesdienst aus, bei dem gestern insbesondere die Abschaffung aller Gewerkschaften feierlich besungen wurde. Zum Abschluß der Sozialgeldempfänger-Weitwurf-Wettbewerb auf dem Oggersheimer Marktplatz. Spence
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