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Archiv-Artikel

Die Einsamkeit der Zahlen

Neuerwachtes, nichtideologisches Lösungsfindungsinteresse: Das Spiel des Jahres 2005 war das japanische Zahlenrätselspiel Sudoko. Ein Erfahrungsbericht

Die Welt geht verloren, man landet im Netz (websudoku.com), spielt gegen die Uhr und Millionen unbekannter Mitirrer

Im Winter hat man Zeit, über vieles nachzudenken. Dann ist auch schon Weihnachten und man hat die meiste Zeit eigentlich nur Sudoku gespielt. Ich hatte das japanische Rätselspiel vor sechs Wochen in einem italienischen Café in Kreuzberg kennen gelernt. Eigentlich hatte ich nur Zeitung lesen wollen. Dann war da dieses Rätsel.

Erst wollte ich nur kurz mal gucken, dann belohnten mich manche Zahlen, die ich einfügte, mit Sinn. Andere waren das Ergebnis falscher Überlegungen und wurden wegradiert. Die Zeit verging. Ich, die Zeitung und der Stift, der dieses mit jenem verband; die Zahlen im Kopf und die, die ich aufs Zeitungspapier schrieb, bildeten eine Blase. Die Geräusche, Gespräche, das Lächeln der Tresenkräfte kamen gedämpft wie von weitem nur noch zu mir hin. Die Sinnesdaten mussten den Weg einer osmotischen Verwandlung gehen, so schien es mir. Dann war es wieder später. Ich starrte immer noch auf die Zeitung und den Bleistift, der mögliche Zahlen schrieb. Irgendwann hatte ich einen Fehler gemacht, aber ich fand den Weg nicht zurück. Mein erstes Sudoku blieb ungelöst.

Erst Wochen später lernte ich mit unmöglichen Zahlen denken. In der Internetenzyklopädie Wikipedia wird alles genau erklärt: Sudoku wurde 1979 von dem japanischen Computeringenieur Nikoli erfunden und im April 1984 in der Zeitung Monthly Nikolist unter dem Namen „Suuji wa dokushin ni kagiru“ erstmals veröffentlicht. Das kann mit „Jede Zahl muss allein sein“ übersetzt werden. 6.670.903.752.021.072.936.960 verschiedene Sudokus sind denkbar. Richtig berühmt wurde Sudoku erst in diesem Jahr. Zunächst in England, wo alle größeren Zeitungen tagtäglich Sudokus veröffentlichen, seit ein paar Monaten auch hierzulande.

Ein Sudoku ist neun mal neun Kästchen groß. Bei mittelschweren Sudokus sind 32 Kästchen schon mit Zahlen ausgefüllt. Man muss die leer gebliebenen Felder so ausfüllen, dass in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem der 9 (3 x 3) Kästchen alle Zahlen von 1 bis 9 stehen. Dann sitzt man an der Zeitung wie an einer Werkbank, notiert mögliche Zahlen und vergisst die Welt um sich herum. Vermutlich verdrängt man sie eigentlich und macht es deshalb am liebsten mit Tageszeitungen, um die Verdrängung kaschierend sich das Gefühl zu geben, trotz allem noch am Tagesgeschehen teilzunehmen. Sudoku funktioniert wie andere Drogen als Blasenproduktionsprogramm. Die Welt geht verloren, man landet im Netz (websudoku.com), spielt gegen die Uhr und Millionen unbekannter Mitirrer. Eigentlich wollte man am Morgen nur kurz eine Konzentrationsübung machen; dann war es wieder abends. Oje!

Die einzelnen Zahlen werfen lange Schatten wie die Türme und Läufer beim Schach. Es gibt auch Sudoku-Zeitschriften mit Rätseln „handgemacht von den Experten“, die hübsch aussehen wegen den Gesetzen der Symmetrie, und in denen auch andere großartige Zahlenrätsel wie „Loop the loop“, „Kakuro“ oder „Brücken“ um Aufmerksamkeit betteln.

Ging es bei den anderen, meist ja quasi identitären suchterzeugenden Spielen der letzten Jahre (Playstation etc.) vor allem um die stetige Erhöhung teilnehmender Aufregung, um den nie endenden Suspense, also die ständige Verschiebung einer Lösung, deutet der große Erfolg von Sudoku auf ein neuerwachtes, nichtideologisches Lösungsfindungsinteresse. Es gibt einfache, mittelschwere, schwere bzw. ganz schwere Lösungen.

Statt Zahlen könnte man auch 9 verschiedene Farben, Buchstaben oder Fußballer nehmen. Es ist erstaunlich und bestätigt die Auffassung von der Multidimensionalität des Gehirns, dass man seine Geheimzahlen für den Bankomaten beim Spielen nicht vergisst. Früher machte man meist noch ein Bier auf, wenn man im Winter leicht betrunken spät nach Hause kam. Heute macht man den Computer an und löst noch ein mittelschweres Sudoku.

DETLEF KUHLBRODT