Die Durststrecke dauert noch bis zum Jahr 2005

■ Obwohl die Zahl der Ausbildungsplätze von Jahr zu Jahr um zehn Prozent steigt, gehen immer mehr BewerberInnen leer aus. Das Geheimnis: Die Zahl der SchulabgängerInnen wächst schneller

Martin Adam suchte jemanden mit „Kontakt zur Szene“. Einen, der HipHop-Flyer auf dem Computer so gestalten kann, daß sie nicht wie Bratpfannenwerbung aussehen. Adam, Geschäftsführer der Werbegrafik- und Multimedia- Firma „Hoch3“, ist vor kurzem fündig geworden. Erstmals stellt der Siebenleutebetrieb zwei Lehrlinge ein – frisch vom Abitur. Auf dem Arbeitsmarkt, unter den erfahrenen GrafikerInnen, wollte Adam sich nicht bedienen, denn „wir brauchen neue Ideen“.

Früher keine, jetzt gleich zwei Lehrstellen. Warum? Erstens, so berichtet der Geschäftsführer, gebe es seit kurzer Zeit überhaupt erst den für „Hoch3“ geeigneten Ausbildungsberuf. „Gestalter für Print- und Digitalmedien“ nennt sich die neue, von der Industrie- und Handelskammer (IHK) anerkannte Profession. Ausschlaggebend war jedoch die persönliche Initiative. IHK-Ausbildungsplatzentwickler Wolfgang Ziehm klappert eine Firma nach der anderen ab, um neue Lehrstellen zu zaubern. Bei „Hoch3“, sagt Ziehm, „rannte ich offene Türen ein“ – und sein Besuch gab den entscheidenden Anstoß.

15 Leute von der IHK tun nichts anderes, als die Zahl der Lehrstellen zu steigern. Mit Erfolg: Zwischen 1996 bis 1997 nahmen die bei der Kammer registrierten Ausbildungsstellen von 9.400 auf 10.600 zu. Die Zahl der ausbildenden Betriebe wurde um 450 auf 4.200 erhöht. Dieses Jahr werden die Lehrlingsplätze noch einmal um zehn Prozent zunehmen, schätzt IHK- Mitarbeiter Gerhard Severon.

Doch alle Mühe kann nichts daran ändern, daß viel mehr Jugendliche einen Lehrbetrieb suchen als Unternehmer einen Stift. Die Schere öffnet sich weiter: Konnten nach Angaben der Senatsarbeitsverwaltung 1996 nur 600 Lernwillige nicht versorgt werden, waren es 1997 schon 1.600, und Ende diesen Jahres stehen schätzungsweise über 3.000 Leute draußen vor der Tür. Die insgesamt 62.000 bei IHK, Handwerkskammer und freien Berufsverbänden registrierten Ausbildungsplätze sind angesichts des steigenden Bedarfs einfach zu wenig. Auch 4.000 mit öffentlichen Zuschüssen und Lottogeldern geförderte Azubiplätze beseitigen die Misere nicht.

Als wesentlichen Grund für das Mißverhältnis nennen Experten die steigende Zahl der SchulabgängerInnen. Verließen im Jahr 1991 noch 24.000 Berliner SchülerInnen die Klassenzimmer, soll ihre Zahl bis 2001 auf 37.000 jährlich steigen. Danach erst könnte es gelingen, die Lehrstellenlücke allmählich zu schließen. Doch „die Durststrecke dauert noch bis 2004 oder 2005“, prognostiziert nicht nur IHK-Mitarbeiter Severon – dann wird die Zahl der Bewerber die der vorhandenen Plätze vermutlich unterschreiten.

Ein übriges tut gegenwärtig die in vielen Branchen flaue Konjunktur. „Gib mir Aufträge, kriegst du Lehrstellen“, bekommt die IHK gerade von manchem Bauunternehmer zu hören. Auch in der Metallindustrie sieht es gar nicht gut aus. Dreher und Schlosser will fast niemand mehr ausbilden.

In den kaufmännischen Berufen und Dienstleistungen erscheint die Lage dagegen besser. Gebäudereinigung, Werbung, Marketing, Datenverarbeitung: Nachfrage nach jungem Personal ist durchaus vorhanden. So ist es kein Wunder, daß IHK-Lehrstellen-Aquisiteur Ziehm ausgerechnet bei „Hoch3“ fündig wurde. Trotzdem nimmt die Werbeagentur die 10.000 Mark Staatszuschuß pro Azubistelle für erstmalige Ausbildung gerne mit. „Aber“, so „Hoch3“-Chef Adam, „wir hätten das auch ohne gemacht.“ Hannes Koch