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Die Diktatur der Sozialarbeiter

Haben die Streetworker auf ihrem Vormarsch das Fernsehen schon erreicht? Eine Polemik  ■ Von Henryk M. Broder

Manche Menschen meinen, es läge an korrupten Politikern, unfähigen Beamten und dem Monopol der Bundespost, daß die Verhältnisse in der Bundesrepublik so sind, wie sie sind. Andere machen die Justiz, die Banken und die Medien für alle Übel im Land verantwortlich. Ganz Schlaue sind überzeugt, es habe keinen Sinn, an den Symptomen zu rütteln, solange die wirklichen Ursachen der Misere nicht schonungslos offengelegt würden: die Pornographie, der Ladenschluß und das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb.

An all diesen Erklärungen mag etwas dran sein, doch treffen sie den Kern der Sache ungefähr so wie die Behauptung, am schlechten Wetter wäre die Witterung schuld. Tatsächlich wird das öffentliche Klima der Bundesrepublik weder von den Konzernen noch von den staatlichen Monopolbetrieben bestimmt, auch der Einfluß der Kulturschaffenden von Justus Frantz bis zu den Wildecker Herzbuben wird gewaltig überschätzt. Seit etwa zehn, fünfzehn Jahren haben in der Bundesrepublik die Sozialarbeiter das Sagen.

Wem das abenteuerlich, an den Haaren herbeigezogen, wirklichkeitsfremd erscheint, der möge sich vergegenwärtigen: Jahr für Jahr werfen die Fachhochschulen für Sozialarbeit, von denen es in der Bundesrepublik einige Dutzend gibt, Tausende diplomierter Sozialarbeiter auf den Markt. Diese Menschen brauchen Arbeit.

Selbst wenn man nicht so weit gehen möchte, den Sozialarbeitern vorzuwerfen, sie würden das soziale Elend, das die Grundlage ihrer beruflichen Existenz bildet, erst kreieren – und sei es durch entsprechende Definitionen ihrer Aufgaben –, um es anschließend zu behandeln, so kommt man doch an der Frage nicht vorbei, warum mit steigender Zahl der Sozialarbeiter auch die Zahl der Sozialfälle zunimmt. Sie verwalten und pflegen ihre Klientel, wie es jeder Geschäftsmann mit seinen Stammkunden tut.

Es waren Sozialarbeiter, welche die Formel „arbeitslos gleich ausländerfeindlich und gewaltbereit“ erfunden haben, ohne auch nur einen Augenblick lang zu überlegen, warum Arbeitslose in Italien und Holland zum Angeln und Bingospielen gehen, während deutsche Arbeitslose offenbar gar nicht anders können, als Ausländer, Behinderte und Asylanten abzufackeln.

Als im Jahre 1993 in einer ostdeutschen Kleinstadt mit einem unaussprechlichen Namen ein Kali-Bergwerk geschlossen werden sollte, wurden wir über Monate hinweg täglich mit Berichten über den heldenhaften Kampf der Kali- Kumpel um ihre Arbeitsplätze terrorisiert. Die vielen Mahnwachen und der Hungerstreik wurden live übertragen, bald kannten wir auch die Ehefrauen der Streikenden bei ihren Vornamen; beim anschließenden Protestmarsch durch die Republik zur „Treuhand“ in Berlin liefen alle Fernsehanstalten mit.

Obwohl den Kali-Kumpeln Abfindungen und Beschäftigungsgarantien in anderen Betrieben angeboten wurden, wagte es kein Politiker, aufzustehen und den Streikenden zu sagen, daß es kein Naturrecht auf eine Arbeit gibt, bei der Produkte hergestellt werden, die niemand kaufen will. Er wäre sofort von der Fraktion der Sozialarbeiter, deren Arbeitsplätze keinerlei konjunkturellen Risiken unterliegen, als herzlos, als brutal, als sozial unerträglich disqualifiziert worden.

Würden sich Sozialarbeiter darauf beschränken, mit schwer erziehbaren Jugendlichen pädagogisch wertvolle Theaterstücke einzuüben oder geprügelten Ehefrauen Karate beizubringen, wären das sinnvolle Aktivitäten. Doch mit solchem Kleinkram an der Grenze zur Animation wie beim Club Med mag sich der anspruchsvolle Sozialarbeiter nicht zufriedengeben, ihn drängt es zu Höherem. Immer mehr Sozialarbeiter wechseln das Umfeld, um die ganze Gesellschaft in eine große Sozialstation zu verwandeln. Patienten und Sozialarbeiter bilden ein großes Kollektiv, das langsam mit der Nation identisch wird.

Wo früher regelmäßig die Familie Hesselbach, der Bergdoktor und nur ab und zu Horst Eberhard Richter und Franz Alt zu vernehmen waren, da machen sich nun raumgreifend die Sozialarbeiter stark. Es ist kaum noch möglich, das Fernsehen anzumachen, ohne auf einen Vertreter dieses Gewerbes zu treffen. Sie schwimmen in fremder Leute Elend wie Aale in einem Schiffswrack. Doch während es den glitschigen Aasfressern nur darauf ankommt, dick und fett zu werden, handeln die TV-Sozialarbeiter zwar auch auf eigene Rechnung, doch in höherem Auftrag. Sie möchten Problembewußtsein schaffen, Denkanstöße vermitteln, Alternativen anbieten, sie fächern menschliche Schicksale auf, damit andere Menschen mit dem gleichen Schicksal erfahren, daß sie nicht alleine leiden.

Ob Hans Meiser oder Ilona Christen, oder ein Herr mit dem programmatischen Namen Fliege – sie treten Tag für Tag an, um uns soziale Dramen vorzuführen, Geschichten von Menschen und anderen Ungeheuern: Väter, die es hinter dem Rücken ihrer Söhne mit den Schwiegertöchtern treiben; Mütter, die ihre Kinder umgebracht haben oder es tun möchten; Frauen, die Lebenslängliche geheiratet haben und von Sex hinter Gittern phantasieren; Männer, die ihren sexuellen Bedarf aus einem Katalog ordern.

Worum es auch geht, welche Abgründe erschlossen werden, der Sozialarbeiter in der Rolle des Moderators steht oder sitzt da, hat sein Gesicht in teilnahmsvolle Falten gelegt und hakt nach: Wie er oder sie sich gefühlt habe, als er oder sie im entscheidenden Augenblick..., oder ob er oder sie noch immer von der Erinnerung verfolgt werde..., ob er oder sie so etwas noch einmal tun würde...

Den Vorwurf, eine Peep-Show von Exhibitionisten für Voyeure zu veranstalten, würden die TV- Streetworker weit von sich weisen. Sie möchten den Menschen helfen, ihr Selbstbewußtsein stärken, Konflikte thematisieren. Es macht keinen Unterschied, ob Ilona Christen jugendliche Stricher oder Hans Meiser werdende Väter befragt, ob Sadomasochisten die Gelegenheit zur Selbstdarstellung bekommen, die Geliebten von Priestern oder die Magersüchtigen. Die Junkies kommen und gehen, nur der marodierende Sozialarbeiter, als Moderator verkleidet, bleibt derselbe.

Was uns da täglich geboten wird, ist die Technik der teilnahmslosen Teilnahme. Niemand beherrscht sie so perfekt wie Margarethe Schreinemakers, die schon deswegen beim Fernsehen landen mußte, weil die Ordnungsämter für Rummelplatzstände keine Konzessionen mehr ausstellen. Ob sie mit ihren Gästen über Krampfadern, Schluckauf oder Blähungen redet oder erwachsene Männer vorführt, die in Windeln machen und an Schnullern saugen – wo ein gewöhnlicher Sozialarbeiter längst zur Spucktüte gegriffen und den Notarzt geholt hätte, da ist Margarethe Schreinemakers mitten in ihrem Element. Nichts Menschliches ist ihr fremd, und immer wirkt sie so, als wollte sie sagen: Ja, das ist mir auch schon mal passiert.

So werden wir immerzu belehrt und erzogen. Wo noch vor kurzem Expeditionen in fremde Länder angeboten wurden, wo wir Känguruhs bei der Paarung zusehen und Eskimos bei der Waljagd begleiten konnten, dürfen wir nun einen Blick in des Nachbars Gemüt und Unterwäsche werfen, vermittelt von Sozialarbeitern, die sich täglich aufs neue der Mühe unterziehen, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie ist der Mensch?

Die Sozialarbeiter bauen ihre Herrschaft systematisch aus. Eines nicht allzu fernen Tages werden wir aufwachen und erfahren, daß Hans Meiser Minister für einsame Herzen geworden ist. Und wenn er dann Margarethe Schreinemakers zu seiner Staatssekretärin ernannt hat, werden wir endlich begreifen, daß ein sozialer Super-GAU stattgefunden hat, gegen den wir nichts, gar nichts unternehmen können.

Vorabdruck (leicht gekürzt) aus: Henryk M. Broder: „Schöne Bescherung – Unterwegs im Neuen Deutschland“. Ölbaum Verlag, 190 Seiten, 29,80 DM. Der Band wird dieser Tage dem Handel überantwortet.

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