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Die Diktatur der Hundertstel

■ Alle sind gleich schnell, und alles ist gleich langweilig. Nicht mehr die Besten gewinnen, sondern der Zufall bestimmt die Sieger

Als Toni Sailer 1956 im Eisschrank von Cortina d'Ampezzo den olympischen Riesenslalom gewann, nahm er dem zweitplazierten Anderl Molterer 6,2 Sekunden ab. Und alle sprachen von einem spannenden Rennen. Das waren noch Zeiten! Sekunden sind heute im alpinen Skizirkus Ewigkeiten, der Wimpernschlag ist das Maß aller Dinge, die Diktatur der Hundertstel regiert.

Doch die Rennen sind dadurch nicht spannender, sondern langweiliger geworden: Weil es immer schwieriger wird, zwischen den Startern irgendwelche Unterschiede zu entdecken. Da braucht es schon Exrennläufer als Kommentatoren, um zu erkennen, an welchem Tor welcher Starter möglicherweise ein paar Hundertstel verloren hat. Und selbst die Experten irren sich. Wenn bei einer Herren-Sprintabfahrt 20 Läufer innerhalb einer Sekunde liegen, können auch die ganz Schlauen nur anhand der Zwischenzeit den kleinen Unterschied feststellen. Ansonsten: Die enge Linie, die Aggressivität, die Ei-Form, die Ski-Führung, das knallenge bunte Trikot: immer dasselbe. Selbst das Gesicht, das wichtigste Unterscheidungsmerkmal, verschwindet unter dem Astronautenhelm.

Die Hundertstel verlangen ihren Tribut. Die Beliebigkeit des Siegers wird immer häufiger zur Konsequenz ihrer Herrschaft. Wo das Hundertstel regiert, wird der Armzug am Start, der Windstoß in der Traversale, der Sonnenstrahl zuviel oder ein paar liegengebliebene Eiskrümelchen vom Läufer zuvor zum alles entscheidenden Moment. Und erst recht die Startnummer, denn die Bedingungen verändern sich dramatisch im Verlauf eines Rennens.

So werden bei der Ski-WM nicht unbedingt die Besten gewinnen, sondern die, bei denen zufällig alles stimmt. Vor allem Alberto Tomba wäre ein Sieg zu gönnen. Mit Dreitagebart und zehn Pfund Übergewicht verkörpert der Italiener den letzten Rest an Individualtität. Was den Rummel um ihn verständlich macht. man-

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