■ Die Debatte um den Artikel 16 hat mehr mit der Zukunft der Republik als mit den Flüchtlingen zu tun: Wohin treibt die Republik?
Otto Schily hat kürzlich in einem taz-Interview angemerkt, er habe den Eindruck, bei der Diskussion um den Artikel 16 des Grundgesetzes ginge es gar nicht mehr um den Schutz für Flüchtlinge, sondern um den Schutz des Grundrechts. Was bei Schily als unterschwellige Mäkelei an linker Prinzipienreiterei daherkommt, trifft als Feststellung genau ins Schwarze. Niemand soll heute mehr so tun, als ginge es in dieser Debatte noch um praktische Fragen der Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen — egal ob politisch Verfolgte oder auf der Flucht vor Armut: Es geht in der Tat um unser Verhältnis zu einem elementaren Teil der Verfassung, weil am Ende der Diskussion ganz prinzipielle Fragen entschieden sein werden. Nicht nur im Wortlaut des Gesetzes, sondern in der Verfassungswirklichkeit der Republik.
Sehr zum Nachteil der Flüchtlinge fokussiert sich die seit dem Fall der Mauer geforderte Verfassungsdebatte ausschließlich auf das Asylrecht, konzentriert sich die Weichenstellung über die Zukunft der Republik auf diesen einen Punkt, muß die Frage um das Asyl stellvertretend für die Grundfragen des zukünftigen Gemeinwesens herhalten. Es wird ja nicht eigentlich darüber diskutiert, welche Menschen warum in die Bundesrepublik kommen; diskutiert wird de facto darüber, wie liberal, wie weltoffen, wie europäisch das zukünftige Deutschland sein wird. Entschieden wird nicht vornehmlich über eine „Harmonisierung des Asylrechts“, entschieden wird über die Verteilung des geringer geworden Wohlstandes — in einem Land wie der Bundesrepublik, wo die jährliche Zuwachsrate zu dem wichtigsten identitätsstiftenden Moment der res publica gehörte, tatsächlich eine existentielle Frage.
Seit Jahren hat ein Teil der öffentlichen Meinung im Verein mit dem Stahlhelmflügel der Union und allen weiter nach rechts reichenden Gruppierungen versucht, die Selbstverständnisdebatte des Landes unter dem Etikett „Asylanten, Ausländer“ abzuhandeln. Sie bedrohten unseren Wohlstand, unsere Identität, unsere Kultur. Was in der alten Bundesrepublik noch unterschwelliges Grummeln war — es hatte ja noch den Hauch eines Skandals, als Stoiber von der „durchrassten“ Gesellschaft sprach —, wurde nach der Vereinigung zunehmend zum Leitmotiv der Diskussion, wurden „Asylanten“ zum Synomym für die Misere im deutschen Vereinigungsprozeß. Wer jetzt so tut, als ginge es bei der Veränderung, Streichung oder Ergänzung des Artikel 16 lediglich um die Bewältigung eines klar umrissenen praktischen Problems, hat nicht verstanden, daß er/sie damit der Logik einer Rechten folgt, die nach der Abschaffung des Artikel 16 mit derselben Logik andere bislang für selbstverständlich gehaltene Errungenschaften des zivilisierten Rechtsstaates angreifen wird. Wer der SPD empfiehlt, lieber jetzt als in einem Jahr vor dem Druck zu kapitulieren, um jetzt wenigstens noch eine einigermaßen tragbare Regelung mit herbeizuführen, sollte sich auch überlegen, an welchen anderen Punkten darüberhinaus die SPD lieber jetzt umdenken sollte, als wieder zu rikieren, unter konservativem Druck einzuknicken. (Über die Bundeswehr und den Lauschangriff denkt Engholm ja bereits laut nach, Europa versus deutsche Nation kommt dann wohl bald). Wenn Düsseldorfs Innenminister Herbert Schnoor glaubt, mit einer Änderung des Artikel 16 der radikalen Rechten den Wind aus den Segeln nehmen zu können, soll er sich für die kommende Europa- Debatte schon mal warm anziehen. Schönhuber („Maastricht ist wie Versaille nur ohne Waffen“) weiß wie die übrige Rechte auch, daß sich in der Europa-Frage dieselben Ressentiments mobilisieren lassen wie in der Asyldiskussion. Die Stichworte liegen längst auf dem Tisch — Deutsche als Zahlmeister für die faulen Europäer, die Mark wird auf dem Altar einer Idee geopfert, die nur die Entmündigung der Deutschen zum Ziel hat: Spätestens im Wahlkampf 1994 sieht Herr Engholm sich dann gezwungen zu erklären, daß mit einer eine politische Union Europa sowieso noch nie etwas anderes angestrebt wurde, als die Wiedergeburt der deutschen Nation zu verhindern. Einer Nation, die selbstverständlich auch über ein entsprechendes militärisches Äquivalent gemäß ihrer politischen Bedeutung verfügen muß.
Gunter Hofmann hat in der Zeit darauf hingewiesen, es sei zu einfach, als gültigen Beleg für den Rechtsruck in den Republik die Petersberger Beschlüsse der SPD- Spitze auszugeben. „Wenn man die Politik nach diesem Kriterium beurteilen will, dann hat der Ruck nach rechts früher begonnen. Die SPD war eben zu kleinmütig, um eine weitsichtigere Einwanderungspolitik und eine humane Flüchtlingspolitik zu betreiben, und damit deutlich zu machen, daß sie an ihrem Kurs gar nichts ändern will, — selbst dann nicht, wenn sie den Artikel 16 zu ändern bereit wäre.“ Genau darum geht es und genau darum muß in der Republik auch über die SPD hinaus gestritten werden. Ein Festhalten am Artikel 16 bedeutet nicht notwendig ein starres Klammern an eine juristische Formel, sondern das Insistieren auf eine bestimmte Republik. Der Schröder-Flügel innerhalb der SPD hat dies mit einem Antrag für den SPD-Sonderparteitag jetzt versucht. Ohne sich einer praktischen Debatte zu verweigern, wird an dem prinzipiellen Gehalt des Artikel 16 für diese Gesellschaft festgehalten. Es wäre schon viel gewonnen, wenn dies zum Minimalkonsens der aufgeklärten Intelligenz in Deutschland würde.
Doch zur Verteidigung einer Republik, in der der Artikel 16 seinen Platz hat, gehört mehr. Beim Namen genannt, geht es um unser Verhalten gegenüber der Armut in Osteuropa. Die „Asylfrage“ erhielt ihre jetzige quantitative Dimension ja erst durch den Abriß des Eisernen Vorhangs. Da eine Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen West- und Osteuropa noch sehr viel länger dauern wird, als zwischen Ost- und Westdeutschland, wird jetzt darüber entschieden, wie die Verteilungskämpfe in Europa ausgetragen werden. Diejenigen, die den Artikel 16 mit allem, wofür er in dieser Debatte steht, im Prinzip und aus Prinzip erhalten wollen, müssen dringend klarmachen, daß auch der Friede in Europa seinen Preis hat. Für den Status quo im Kalten Krieg sind Unsummen investiert worden. Das Geld gehört nun in die Entwicklung besserer Lebensverhältnisse in Osteuropa und in den Aufbau von Institutionen eines Einwanderungslandes investiert. Statt über das Asylrecht sollten wir endlich anfangen, ernsthaft darüber zu reden, welchen Beitrag die Bundesrepublik, aber auch die anderen Länder Westeuropas für den Aufbau Osteuropas zu leisten bereit sind. Ohne die Bereitschaft zu teilen wird es Mord und Totschlag geben, mit oder ohne Artikel 16 im Grundgesetz. Deshalb macht der Einsatz für den Erhalt des Artikel 16 erst dann wirklich Sinn, wenn damit die Bereitschaft zum Teilen signalisiert wird. Jürgen Gottschlich
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