■ Die Debatte um Goldhagens Holocaust-Buch zeigt: Viele jüngere Deutsche möchten mehr über die NS-Zeit wissen: Die Remoralisierung des Blicks
Alle großen öffentlichen Debatten erzeugen ihre Nebenkriegsschauplätze. So stand in der Süddeutschen Zeitung vom 12. September unter dem Titel „Deutsches Unglück. Die Zeit warnt die Juden“ eine kurze Polemik von Richard Chaim Schneider zu lesen, der der Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff unumwunden Antisemitismus vorwarf.
Was war passiert? Die Gräfin hatte kurz zuvor einen Zeit-Artikel zum Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ geschrieben. Darin warf sie dem Autor Daniel J. Goldhagen, wie viele andere auch, Einseitigkeiten vor. Am Schluß sorgte sie sich: „Statt die Menschen für neue Einsichten zu öffnen, ist zu befürchten, daß sie sich mit dem Argument ,So war es ja gar nicht‘ verschließen und überhaupt nicht mehr über diese Schandtaten nachdenken. Auch ist die Befürchtung, daß das Goldhagen-Buch den mehr oder weniger verstummten Antisemitismus wieder neu beleben könnte, leider nicht ganz von der Hand zu weisen.“
In diesem letzten Satz, so Schneider im Gestus der Großentlarvung, zeige sich die „wahre Gesinnung“ dieser „Galionsfigur des liberalen deutschen Nachkriegsjournalismus“. Er sei nämlich als Drohung an die Juden zu verstehen: „Wenn ihr Juden uns dermaßen provoziert, dann ist unser Antisemitismus geradezu eine zwanghafte Folge eures Verhaltens.“
Nun kommen Drohungen in der Tat häufig im harmlos wirkenden Gewande der laut geäußerten Befürchtung daher (und gerade die antijüdische Propaganda liefert dafür unzählige Beispiele). Daraus aber zu schließen, daß jede Befürchtung zwangsläufig auch eine Drohung sein muß, braucht ein paar Indizien mehr. Etwa den Nachweis, daß hier in Richtung der Juden gesprochen wurde. Den liefert Schneider allerdings nicht (und Dönhoffs Text gibt dazu auch nichts her). Damit wird seine Behauptung beliebig.
So hatte es der Publizist Peter Bender leicht, anderntags in der SZ Dönhoff gegen die Anwürfe zu verteidigen. Doch der Wellenschlag der verschiedenen Lesweisen des inkriminierten Satzes setzte sich im Leserbriefteil des Blatts bis zum letzten Wochenende fort. Seltsamerweise aber ging die Diskussion im Hin und Her der Anwürfe und Ehrenerklärungen an dem, was Dönhoffs Satz der Sache nach behauptet, ganz vorbei. Wie steht es denn in Deutschland wirklich mit dem „mehr oder weniger verstummten Antisemitismus“? Und: Gibt es Anzeichen dafür, daß Goldhagens Buch ihn neu beleben könnte? Bender zeigt sich davon überzeugt: „Die Mehrheit der Deutschen wünscht seit Jahrzehnten ein Ende der Vergangenheitserforschung. Goldhagen liefert der Masse derer, die davon nichts mehr hören wollen, eine scheinbare Bestätigung.“
Nun ist es erstaunlich, daß die „Masse derer, die davon nichts mehr hören wollen“, ausgerechnet bei Goldhagen eine Ausnahme machen sollen. Überhaupt denke ich, daß Antisemitismus kaum auf Bestätigung oder Widerlegung durch Bücher wartet. Dönhoff und Bender argumentieren an dieser Stelle ein wenig zu feinsinnig. Man hört die Bildungsbürger, die die Wirkung von Gedanken maßlos überschätzen und bei ungenauen Formulierungen sofort soziale Katastrophen heraufziehen sehen – natürlich nur bei den „Massen“ mit ihrer Anfälligkeit für Mißverständnisse. Dabei hat gerade das Bildungsbürgertum in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts den Antisemitismus getragen. Belesenheit störte sie da wenig.
So wundert kaum, daß der Blick auf diese Massen zu pauschal gerät. Zwar hat Bender recht damit, daß die Mehrheit der Deutschen einen Schlußstrich unter die Vergangenheit gesetzt sehen will. Aber die Spiegel-Umfrage von 1992, auf die er sich dabei berufen könnte, kommt zu differenzierteren Resultaten: Je jünger die Befragten waren, desto stärker wurde auch das Interesse an dieser Vergangenheit. Ähnliches stellt sich auch bei anderen Untersuchungen heraus. Selbst wenn sich in den Zahlen nur Sprachregelungen ausdrücken, deuten sich bei einem Teil der jüngeren Generation Meinungsverschiebungen an, die genauer beachtet werden müßten.
Die Resonanz auf Goldhagens Buch, aber auch der Erfolg von Klemperers Tagebüchern und davor von Spielbergs Film „Schindlers Liste“ weisen in eine ähnliche Richtung. Offenbar zeichnet sich hier eine Remoralisierung des Blicks auf die Nazizeit ab. Dabei geht es nicht um schlichte Betroffenheit, sondern um eine Verschiebung der Perspektive vom allgemein beschworenen Unheil weg auf das, was den einzelnen zu tun möglich war. Diese Frage kann man nämlich heute nicht mehr an die Eltern stellen, sondern nur noch an Bücher. Und dort finden sich klarere Antworten.
„Schindlers Liste“ brach mit der Vorstellung, daß man, um richtig zu handeln, im Dritten Reich ein moralisches Überwesen hätte sein müssen. Klemperers Notizen über die alltägliche Judenfeindlichkeit in Dresden enthalten so viele Beispiele von auch judenfreundlichen Handlungen oder nur Gesten, daß sich der Eindruck aufdrängt: Es gab Möglichkeiten, sich anders zu verhalten als die meisten. Nur ergriffen wurden sie zu selten.
Um nichts anderes geht es auch in Goldhagens Buch. Ohnehin eher Erzählung als Analyse, akzentuiert es die Freiwilligkeit der Täter, ihren Status als Subjekte ihrer Taten (und nicht als Objekte psychischer und sozialer Mechanismen). Das ist das, was man die moralische Perspektive nennt.
Im „Historikerstreit“, der letzten großen Debatte über die Nazizeit vor zehn Jahren, gab es die Befürchtung, daß der zunehmende zeitliche Abstand zu einem nur noch historisch distanzierten Umgang mit dem Nationalsozialismus führen könnte. Goldhagen und andere zeigen: Eben dieser Abstand kann auch ein moralisches Interesse aktivieren, das sich sehr direkt für die Menschen und ihre Handlungen interessiert. Das ist allerdings nicht der alte Moralismus der Nachkriegsjahre, der sich hoffnungslos in Generationskonflikten verstrickte und sich mit Schuldgefühlen herumschlug, sondern eine Aufmerksamkeit für das bei allen Erklärungen weiterhin Rätselhafte: das tatsächliche Maß an Schuld, das die Täter auf sich geladen haben. Eberhard Hübner
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