Die Cowboys sind mitten in der Stadt

Von Old Texas Town, der Westernstadt mitten in Berlin, sang schon Gunter Gabriel. Doch es gibt auch noch das Westerndorf in der Schönholzer Heide. Dort leben Rosi und Klaus Dieter Walz alias die Zweiseelenfrau und Nick Carpenter. Ihr Traum: einmal im Leben in die Haut eines anderen schlüpfen

In Schönholz verwandeln sie sich in Trapper, Indianer, Lady Janes und Scouts. Die Hauptsache ist, authentisch zu seinSie erzählen gerne von ihren verschiedenen Leben. Vorausgesetzt, man nimmt ihre Liebe zur Westernkultur ernst

von WALTRAUD SCHWAB

„Ich kann den Schnee nicht mehr sehen“, sagt Rosi Walz. Sie steht im Schützenhaus Berlin-Schönholz hinterm Tresen im Clubraum. Ein Ehrenamt. Sie macht’s, weil sie dazugehört, weil sie eine gestandene Frau ist, weil sie Prinzipien hat: Wer im Training ist, wer schießt, kriegt bei ihr keinen Alkohol, sagt sie.

Außerdem macht sie’s, weil Winter ist. Da ist es zu kalt, um sich in der zweiten Haut, die sie hat, richtig wohl zu fühlen. Denn Rosi Walz hat mehr als ein Leben. Sie ist die „Zweiseelenfrau – die „Two-Soul Woman“.

Zusammen mit ihrem Mann Klaus Dieter Walz alias Nick Carpenter und 18 anderen Cowboys gehört sie zum Clan der Old Buzzards, der alten Bussarde. Die sind einer von mehreren Westernclubs in Berlin und im Umland.

Versteckt hinter Schießwällen, im hintersten Winkel des Geländes der Schießanlage Schönholzer Heide, liegt das bescheidene Dorf der Old Buzzards mit Saloon, Lagerfeuerplatz und Fischteich. Dazu gibt es zwei Bauwagen, die mit etwas Fantasie als Blockhütten durchgehen, wie Carpenter erklärt. Carpenter, Schreiner, ist er wirklich. Mit Uwe Peters, aka – also known as – Üw the Undertaker, dem Bestatter – stapft er durch den Schnee zum Saloon.

Der Saloon ist das Herzstück des Westernclubs. Er ist im hintersten Zimmer eines an einen überdimensionierten Umkleideraum erinnernden Gebäudes. Überall Spinde. Dazu der Geruch nach DDR und Putzmittel. Denn bevor der Schützenverein kam, übten DDR-Jugendliche auf dem Gelände das Schießen, vormilitärisch als Sport getarnt. Davor waren die Nazis am Werk und vor ihnen die preußischen Junker.

Für den Schützenverein wirkt das Ensemble aus Schießwällen, Freiflächen und backsteinernem Schützenhaus eine Nummer zu groß. Deshalb konnten sich die Buzzards, die zwischen 30 und 70 Jahre alt und im zivilen Leben Finanzbeamte, Buchbinder, Verkäuferinnen oder Maler sind, auf dem Gelände ausbreiten. Hier verwandeln sie sich in Trapper, Indianer, Südstaatler, Nordstaatler, Lady Janes und Scouts – grad, wie es kommt. Einer kann auch mehrere sein. Hauptsache authentisch. „Hauptsache Authentiker.“

Im Saloon ist es schummrig und warm. Einer der Cowboys, ein Arbeitsloser, heizt morgens den Ofen. Durch dessen Glastür sind die lodernden Flammen zu sehen. Rechts an der Wand gestapeltes Holz. Neben Tresen, Schaukelstühlen und Sofas steht der Billardtisch. Gespielt und gedartet werde hier, erklärt der Undertaker. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern. Im Schützenverein war er schon. Wollte aber noch was Eigenes machen. „Was mit Gemeinschaft.“

Von innen ist die Hütte mit Rinde ausgekleidet und mit bestickten Cowboyhüten, Indianerporträts, Gewehrattrappen und Familienfotos der Buzzards dekoriert. Rosi und Klaus Dieter Walz’ Hochzeitsfoto von letztem Jahr etwa hängt da. Sie im roten, geschnürten Kleid einer Siedlerin. Er mit Hut, Weste und Gehrock. Die anderen Hochzeitsgäste haben ihre Festroben ebenfalls der Zeit angepasst.

Eigentlich tragen die Zweiseelenfrau und Nick Carpenter lieber ein Mix aus Western- und Indianderklamotten, denn die beiden sind Trapper. Sie leben als Händler an der Nahtstelle zwischen Weißen und Indianern. Nick Carpenters Mokassins seien deshalb auch von den Sioux, seine Haube sei von den Crawfeet, sein Jagd- und Schamanenhemd von den aus dem Ohio-Gebiet stammenden Mandan.

Rosi Walz schneidert die Lederhemden und Röcke selbst und bestickt sie. „Aber im Winter geht das nicht so mit dem Outfit“, erklärt sie. „Ist zu kalt dafür.“ Den Sommer aber, den werden sie wieder auf dem Gelände vor dem Saloon verbringen. Dann versuchen sie, so zu leben wie damals.

Die Männer des Buzzard-Clans, den es seit 1994 gibt, müssen etwa das Essen beschaffen. „Gut, schießen können sie das Wild nicht. Dann müssen sie es eben einkaufen.“ Andere Aufgaben, die ihnen zufallen: Holz hacken, Pfeil und Bogen in Ordnung halten, die Gewehre putzen. Frauen wiederum müssen das Feuer hüten. Tomaten, ja sogar Tabak, haben sie ebenfalls schon mal angebaut. „Hat für ’ne Pipe gereicht“, meint der Undertaker.

Natürlich kommen Wettkämpfe dazu: Luftgewehrschießen, Bäume erkennen, Entfernungen schätzen, Spuren lesen, Feuer anmachen ohne Streichhölzer und Feuerzeug. Dazu stählen sich die Cowboys im Lasso-, Beil-, Bratpfannen- und Hufeisenwerfen. In den Schießwällen wiederum werden auch schon mal in Goldpapier eingewickelte Steine versteckt. Die Goldgräber müssen die Nuggets dann finden. Wer am meisten hat, gewinnt. Die Sieger kriegen mal ’ne Messertasche, mal ein Perlenband, Bücher, ’nen selbst gemachten Brombeerlikör oder ’ne Feder als Preis. „Ist Traditionspflege, was wir machen“, erklärt Rosi Walz. Eine Abkehr von der Fernsehkonsumwelt und der Wegwerfkultur. „Und dass man ’ne Gemeinschaft hat, ist wichtig“, betont auch sie.

Die Old Buzzards sind im Schönholzer Schützenverein, denn zum authentischen Vergnügen gehört es, mit Schwarzpulver zu schießen. „Ist ’ne komplizierte Angelegenheit: Pulver reinstopfen, Kugel drauf, verschließen.“ Eine Minute für einen Schuss brauchen sie schon. Hinterher sei alles schwarz. Das Gesicht, die Hände, das Gewehr. Früher war Klaus Dieter Walz zudem Bogenschütze in einer Bezirksliga.

Überhaupt, die vielen Leben: Walz ist 1955 in Magdeburg geboren und bei den Großeltern aufgewachsen, denn seine Eltern sind 1960 mit seinen zwei Geschwistern in den Westen. Aber sie seien verraten worden. Das jüngere der beiden Kinder sei den Eltern auf dem Bahnhof weggenommen, in ein Kinderheim gebracht und später zur Adoption freigegeben worden. „Ich weiß nicht, wo er ist.“ Wie es damals 1960 genau war, hat er seine Eltern nicht gefragt. „Ist ’ne komplizierte Geschichte.“ Außerdem war das zu schmerzhaft für die, da wollte er nicht dran rühren. Aber Rosi Walz ist anders. Sie ist ein Familienmensch, bei so was lässt sie nicht locker. Aus ihrem Portemonnaie holt sie einen Zettel und zeigt ihn: „Rolf-Jürgen Walz heißt der Bruder. Ist am 4. 4. 1958 geboren. Vielleicht kennt ihn ja wer.“

Klaus-Dieter Walz ist erst 1974 „aus der DDR entlassen worden“, nachdem er zuvor wegen Fluchtversuch Monate im Knast saß. Hat Möbeltischler gelernt, ist zehn Jahre als Countrymusiker durch das Land gezogen. Heute arbeitet er in der Messmittelverwaltung bei Stadler, ehemals Waggonbau. Morgens um zwanzig nach vier fängt sein Tag an. Ist er nicht Trapper, ziehe er nach der Arbeit ganz gern einen Trainingsanzug an und schaue fern. Manchmal allerdings packe er auch seine Gitarre, um in seiner Stammkneipe ein wenig zu spielen. Entwurzelt wirkt er irgendwie, obwohl er im realen Leben bodenständig sei. In der Fantasie allerdings ist er Vagabund. Ein Drittel seiner Zeit, schätzt er, ist er als Nick Carpenter Grenzgänger zwischen den verschiedenen Welten. Vor allem im Sommer.

Und Rosi Walz? Die Reinickendorferin, die mal mit einem Bayern verheiratet war und so in den Schützenverein kam, die mal arbeitslos wurde und so zum An- und Verkauf gekommen ist, kann ebenfalls eintauchen in eine andere Welt: Denn als „Two-Soul Woman“ hat sie eine eigene Biografie. Da ist sie ein Findelkind. Aufgezogen wurde sie von einer Trapperfamilie. Später hat sie sich als Animierdame über Wasser gehalten und war mit einem Fallensteller verheiratet. Aber das ging nicht gut. Nun ist sie mit Carpenter zusammen, der mit Indianern Handel treibt. Durch ihn ist sie mit den Indianer selbst in Kontakt gekommen, Sie hat gemerkt, wie sehr sie von deren Kultur angezogen ist. „Eine natürliche Anziehung.“ Es dämmerte ihr: Sie ist selbst Indianerin. So ist das.

In der Westernwelt fühlt Rosi Walz sich wohl. Da kann sie ihr Schicksal selber bestimmten. Und sie ist anerkannt. Zurück in der Berliner Identität, schaut sie sich mitunter ein Buch, einen Film aus der anderen Welt an oder kopiert alte Stickmuster. Einmal war sie auch in Florida. Dort hat sie Indianer gesucht. Aber im Reservat hat sie keine gefunden.

Hinterm Tresen im Schützenhaus von Schönholz stehen Rosi Walz und ihr Mann. Draußen schmilzt hoffentlich bald der Schnee. Sie erzählen gerne von ihren verschiedenen Leben. Eines allerdings wünschen sie sich: Dass man ihre Liebe zur Westernkultur ernst nimmt. „Denn nur zum Verkleiden, dafür sind wir zu alt.“