Die Brutalität wächst - aber keiner handelt

■ Jugendbanden: Gewaltaktionen von Gangs nehmen drastisch zu / Senat verwaltet Problem - und richtet Arbeitsgruppe ein / Polizei setzt auf Strafverfolgung plus Dialog

Schüler schleichen auf Umwegen zur Schule, weil sie Angst davor haben, unterwegs einer Jugendbande in die Arme zu fallen und die Jacke, den Walkman oder das Fahrrad geklaut zu bekommen. Jugendlichen-Gangs schlagen in den U-Bahnhöfen Gleichaltrige zusammen, weil ihnen deren Gesicht nicht paßt. Kreuzberger Kids gehen nur noch zu mehreren vor die Tür. Sie haben ein Messer oder eine Gaspistole in der Tasche. Manch einer fuhrwerkt sogar mit einer scharfen Knarre rum. Heranwachsende bilden zu nachtschlafender Zeit spontan eine Bande, um einsame Fußgänger auszurauben oder einzelnen Homosexuellen auf den Klappen aufzulauern. In der City rund um den Breitscheidplatz schlagen sich Kids im Alter zwischen 13 und 20 Jahren mit Baseballschlägern die Köpfe ein. Meldungen wie diese gehören in West-Berlin mittlerweile schon fast zur Tagesordnung. Läßt New York grüßen? Die Polizei spricht von einem deutlichen Anstieg der jugendlichen Gewalttaten, betont aber, daß die Berliner Banden noch lange nicht das Format amerikanischer Gangs erreicht hätten. Nach Kripo-Schätzungen gibt es in der Stadt rund 20 Jugendbanden, die zusammen genommen mehrere hundert Mitglieder haben. Die Mehrzahl mache immer wieder durch Roheitsdelikte von sich reden. An erster Stelle werden die „Giants“, die „36 Boys“, die „Rebells“ die „Two Nation Force“ oder „Black Panter“ genannt.

Gegen viele Jugendliche sind Strafverfahren wegen Körperverletzungen, Sachbeschädigungen und Raubüberfällen anhängig. Besonderen Anlaß zur Sorge gibt aber, daß die überwiegende Zahl der Bandenmitglieder Ausländer sind: Bei den vornehmlich in der Innenstadt agierenden „Giants“ und „Black Panters“ sind hauptsächlich Türken, Jugoslawen und Araber Mitglied, bei den Kreuzberger „36 Boys“ haben sich zu 90 Prozent Türken organisiert. Die „Two Nation Force“ besteht zur Hälfte aus Jugoslawen und zur anderen aus Deutschen. Auch die „Spontanzusammenschlüsse“ Jugendlicher für Überfalle werden nach Polizeiangaben immer mehr von ausländischen Heranwachsenden praktiziert.

Der Trend zu mehr Brutalität unter den Jugendlichen hat inzwischen auch den Senat in Alarmbereitschaft versetzt. Unter Federführung der Senatsverwaltung für Jugend wurde in der vergangenen Woche eine Arbeitsgruppe zum Thema „Jugendgewalt“ gebildet, in der das Problem zusammen mit Vertretern der Innen- und Schulverwaltung angegangen werden soll. In behördenüblicher Manier wird erst einmal eine langwierige und verwaltungsaufwendige Bestandsaufnahme gemacht: Die Innenverwaltung soll dafür sorgen, daß alle Polizeierkenntnisse über die Jugendkriminalität zusammentragen werden. Die Schulverwaltung will die Rektoren der 500 Berliner Schulen bei den routinemäßigen Konferenzen bitten, von den Lehrern Meldungen über Vorkommnisse und Auffälligkeiten der Schüler einzuholen. Die Jugendverwaltung will sich mit den Jugendstadträten der einzelnen Bezirke ins Benehmen setzen und nach erfolgter Rückmeldung Ursachenforschung betreiben. Die Rückmeldung der Jugendstadträte wird allerdings etwas auf sich warten lassen, weil das Thema erst bei der nächsten Jugend -Bezirksstadträte-Sitzung am 14. Februar auf der Tagesordnung von Familiensenatorin Klein steht. Auch die Ausländerbeauftragte des Senats, John, möchte sich erst einmal sachkundig machen, „was sich da überhaupt abspielt“, bevor sie Konzepte zum Besten gibt.

Die Polizei ist da um einiges schneller: Der designierte Polizeivizepräsident Schenk schlägt eine Kooperation zwischen Polizei, Sozialarbeitern und Lehrern vor. Wohlwissend, daß die in der GEW organsierten Lehrer und die Sozialarbeiter in den Freizeitheimen zum „linken Spektrum“ gehören und erhebliche Berührungsängste mit der Polizei haben, hofft Schenk trotzdem, daß sich die beiden Lager auf eine parallele Vorgehensweise einigen können: Die Polizei durch nachhaltiges Verfolgen der Straftaten und die Lehrer, Sozialarbeiter und Streetworker dadurch, daß sie die Jugendgruppen mit Gesprächen über den Sinn ihrer Taten, Rohheit und Gewalt, „von innen her angreifen“. Ohne diese Kooperation sei zu befürchten, daß die in der Mehrzahl ausländischen Bandenmitglieder die gezielte Verfolgung ihrer Straftaten als Rassimus auslegten und sich noch enger zusammenschlössen. Daß die „schweren Roheitsdelikte“ mancher Jugendlicher mit Haftbefehlen und entsprechenden Strafen sanktioniert werden müssen, steht für Schenk und dem zuständigen Kriminaldirektor Voß außer Zweifel: „Nicht nur wegen der Abschreckung, sondern weil die Täter dann keinen Einfluß mehr auf die Gruppe ausüben können.“

Auch der Sport- und Mathematiklehrer an der Hector Petersen -Schule in Kreuzberg, der Kurde Hasan Burcu, braucht nicht erst Ursachenforschung zu betreiben um zu wissen, wo es im argen liegt: „Die Lehrer tun nichts, weil sie entweder zu alt sind, von den gesellschaftlichen Entwicklungen keine Ahnung haben oder weil sie ein ruhiges Leben führen wollen.“ Burcu, der viele Jahre Personalratsvorsitzender der GEW -Kreuzberg war, nimmt sich für seine Schüler viel Zeit und genießt so auch bei schwierigen Kandidaten großes Vertrauen. Er erzählt, daß sich Schüler, die auf ihrem Schulweg zusammengeschlagen wurden, als Reaktion darauf selbst einer Bande anschlossen, um bei dieser Schutz zu finden. „Den Schutz“, so Burcu, „muß die Schule, die Eltern und der Staat gewährleisten.“ „Die Eltern tun nichts, die Lehrer tun nichts und die Polizei wird ungern gesehen.“ Strafmaßnahmen hält Burcu für keine geeignete Lösungsmöglichkeit. Daß die Polizei mit den Schulen in Dialog treten will, findet er „korrekt“, aber nur, wenn die Beamten den Jugendlichen nicht mehr, wie häufig geschehen, als „Rambos“ gegenübertreten. Seinen Kollegen und den Eltern legt Burcu ans Herz, die Kinder als „eigene Persönlichkeiten“ samt ihrer Zukunftsängste zu akzeptieren und sich für diese Zeit zu nehmen. Burcu, der sich als Ansprechpartner für seine Kollegen in Kreuzberg anbietet, fordert auch, daß mehr Beratungstellen für Eltern geschaffen und verstärkt Sozialarbeiter auf der Straße und in Schulen geschickt werden. „Wenn die Schüler drei Wunschberufe haben, müssen sie davon wenigsten einen bekommen, sonst ist die Folge, daß sie keine Lust haben und für andere Abenteuer offen sind“, erklärt der Lehrer eine der Ursachen für die zunehmende Jugendkriminalität.

Daß so viele ausländische Jugendliche in den Banden sind, führt Burcu aber insbesondere darauf zurück, daß sich viele Jugendlichen vor einem Jahr als Reaktion auf die Republikaner und Skinheads als vermeintliche Kämpfer gegen rechts in Gruppen zusammenschlossen: „Die politische Identität ist ihnen sehr bald verloren gegangen, weil sie dazu nicht politisch genug sind, und allmählich sind aus den Gruppen kriminelle Vereine geworden.“

Plutonia Plarre