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■   Die Bilder ähneln sich: An den Grenzübergängen Tschetscheniens warten tausende Flüchtlinge darauf, in ein sicheres Nachbarland ausreisen zu dürfen. Wie einst an den Grenzen des Kosovo. Diesmal jedoch protestiert im Westen fast niemand gegen den Aggressor.Fahrkarten nach Moskau gibt es nicht

Die Flüchtlinge hoffen, dass die russischen Flieger das Lager mit dem roten Kreuz erkennen und keine Bomben werfen

Tauz wartet schon vierzehn Stunden in der Schlange. In dieser Zeit ist ihr alter Schiguli, den sie und ihr Mann sich vor acht Jahren gekauft haben, gerade mal neun Kilometer weit gekommen. Bis zur Grenze, die das relativ sichere Inguschetien vom unruhigen Tschetschenien trennt, sind es nur noch ein paar Meter. „Ich wollte nicht weg“, sagt Tauz leise. Sie zittert, ihren drei Monate alten Sohn hat sie fest an sich gebunden, sodass er sich kaum bewegen kann. „Aber gestern haben die Russen in Urus Martan den Dorfplatz bombardiert. Sie haben die Moschee zerstört. Von unserem Haus sind nur brennende Mauern übrig geblieben. Wir haben es gerade noch geschafft, zu unseren Nachbarn in den Keller zu rennen.“

Bei dem Bombenangriff auf Urus Martan, südöstlich der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, starben acht Menschen. „Es waren alles Zivilisten,“ meint Tauz und ihr Mann nickt dazu nur schweigend. Nicht weit entfernt, links von der Straße, die von Tschetschenien nach Inguschetien führt, ertönt eine Serie von Explosionen. Die Russen haben begonnen, ein weiteres tschetschenisches Dorf zu beschießen. Bamut ist von der inguschetischen Grenze nur einen Steinwurf weit entfernt. Seine Bewohner warten auch in der Schlange vor dem Grenzübergang.

Bamut ist eines der Dörfer, das als „Bergfestung“ seinen Platz in den tschetschenischen Geschichtsbüchern gefunden hat. Während des russisch-tschetschenischen Krieges 1994 bis 96 ist es den Russen nie gelungen, es einzunehmen. Als sie vor einigen Tagen erneut begannen, das Dorf zu beschießen, war dort kein Partisan mehr. Doch die Zivilisten waren geblieben. Sie flohen erst, als die Dächer über ihren Köpfen brannten. Manche schafften es nicht mehr.

Seit Beginn der russischen Angriffe sind rund 180.000 Menschen auf der Flucht. Die Mehrzahl, etwa 120.000, gingen nach Inguschetien. Die Inguschen nahmen ihre „Brüder“ , wie die Kaukasier pathetisch sagen, offen auf. In Dagestan, Tschetscheniens östlichem Nachbarn und in Russland selbst ist das Verhältnis zu den tschetschenischen Flüchtlingen dagegen mehr als unfreundlich. Dagestan hat sogar seine Grenzen dicht gemacht. Die Russen nehmen die Tschetschenen, die für sie „Terroristen“ sind, nur ungern auf.

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Der zweijährige Shamil sitzt auf einem Haufen Lumpen und heult. Die Grausamkeit hat bei ihm Spuren hinterlassen. In der Kabine eines Lasters drängeln sich Shamil, seine Eltern und vier Geschwister, auch die achtzigjährige Großmutter und die geistig behinderte Tochter der Nachbarn gingen mit auf die Flucht. Vater Chunkar beschließt, dass sie es heute nicht mehr bis Inguschetien schaffen. Sie lassen sich in einem Lager gleich neben der Straße nieder, genauso wie tausende anderer ihrer Landsleute, die es nicht mehr aushielten, in dieser Schlange von Autos, Lastwagen und Traktoren. Sie bleiben in Tschetschenien, nur ein paar Kilometer von der inguschetischen Grenze entfernt. Sie hoffen, dass die russischen Flieger das Lager an seinem riesigen roten Kreuz erkennen und keine Bomben abwerfen. Direkt hinter den Zelten heben ein paar Männer einen Graben aus. Die einzige Latrine für mehr als fünftausend Menschen. Wasser liefert das inguschetische „Ministerium für außergewöhnliche Situationen“ in Behältern. Es reicht nicht für alle, genauso wenig wie das Brot. Zelte hat nur ein Drittel der Flüchtlinge, der Rest sucht unter Plastiktüten vor dem Regen Zuflucht. Manche haben sogar Möbel dabei. Die stehen jetzt unter dem freien Himmel.

Eine alte Frau sitzt auf ihrem Ehebett und schaut in den Himmel. Vielleicht sucht sie ihn ab nach russischen Bombern, die ihr vor drei Tagen ihr Haus in Stara Sunzha, etwas außerhalb der Hauptstadt Grosny, zerstört haben. Vielleicht hat sie Angst, dass es wieder anfängt zu regnen. Ihre Federbetten sind schon ganz modrig. An den Fuß ihres Stuhles hat sie ihre sechs Hühner angebunden.

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Auf dem Bahnhof der inguschetischen Hauptstadt Nazran liegen dutzende von Leuten auf Bänken und dem Betonboden. Sie haben in den letzen Tagen versucht, eine Fahrkarte nach Russland zu kaufen. In Städte, in denen Bekannte oder Verwandte leben. „Sie dürfen uns nicht in die Züge lassen,“ erklärt der 73-jährige Usman Gatejv. In seinem Pass steht unter Wohnort „Samaschki“. Den Ort haben die Russen schon dreimal bombardiert. „Im letzten Krieg haben sie uns vor ihre Panzer gezerrt, damit wir sie mit unseren Körpern vor den Partisanen schützen. Das werden sie wieder tun“. Usman und auch andere sagen, dass dort, wo die Russen ihre Bomben werfen, keine militärischen Objekte stehen. Nach Angaben des tschechenischen Präsidenten Aslan Maskhadow starben schon 600 Zivilisten, tausend Menschen seien verletzt worden. Niemand kann diese Angaben überprüfen. Täglich bombardieren die Russen Städte und Dörfer in Tschetschenien. Zu zählen, wie viele Beerdigungen es in letzter Zeit gab, ist unmöglich.

Die Bahnangestellten dürfen weder Usman noch irgendeinem anderen, der seinen Wohnsitz in Tschetschenien hat, Fahrkarten verkaufen. Auf dem Flughafen ist die Situation nicht minder dramatisch. Menschen drängen sich an den Abfertigungsschaltern, einer schreit lauter als der andere. Hinter dem Schalter sitzt Mariam. Sie ist Inguschin. „Zuerst haben sie uns aus Moskau verboten, Tschetschenen Tickets zu verkaufen“, sagt sie leise, damit sie niemand hört. Vor ihr am Schalter steht ein Mann und schreit: „Ich will ja gar nicht fort, aber lassen Sie wenigstens meine schwangere Frau und meinen Sohn fliegen.“ Mariam nimmt müde sein Geld entgegen: „Ich kann das nicht mit ansehen. Wir haben hier auf dem Flughafen abgemacht, dass wir allen Tickets verkaufen. Mariam hat Ringe unter den Augen. Sie zuckt mit den Schultern. „Wo all diese Leute bloß hinwollen, ich weiß es nicht. Soll es ihnen in Moskau besser gehen? Dort will sie doch keiner!“ Viele Flüchtlinge geben die Schuld an ihrem Unglück der Führung in Moskau. „Die russischen und tschetschenischen Banditen haben sich doch zusammengeschlossen“, meint Mariam. „Die verdienen an dem Krieg, und die gewöhnlichen Menschen müssen leiden.“ Der Mann am Schalter, ein Tschetschene, hat zugehört und regt sich auf: „Und wer bombadiert uns? Vielleicht Rebellenführer Basajew? Jelzin ist der Terrorist, nicht wir Tschetschenen.“ Er nimmt sein Ticket und verabschiedet sich von seiner Frau.

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Nazran hat heute dreimal so viel Einwohner wie noch vor einem Monat. Daher dürfen jetzt nur noch Autos mit einheimischen Kennzeichen einreisen. Die Männer laden ihr Hab und Gut und ihre Familie ab, dann fahren sie zurück. In jedem Haus lebt mindestens eine weitere Familie aus Tschetschenien. Diejenigen, die hier weder Bekannte noch Verwandte haben, können mit einem Funken Glück ein Zelt finden. Die, die kein Dach über dem Kopf haben, beneiden die Glücklichen, die ein paar Tage früher gekommen sind. In drei Wochen wird hier der Winter Einzug halten. Schon jetzt ist es nachts kalt. Die russische Führung behauptet, dass die Armee diesmal nicht in Tschetschenien überwintern wird. Petra Procházková, Grosny ‚/B‘ Übers.: Alexandra Klausmann

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