■ QUERBILD: Die Bettlektüre
Ein Pinsel fährt zart über ein rundes Kindergesicht, berührt Stirn, Wangen und Nase. Mit einem Tupfer auf der Oberlippe beendet der Maler den Geburtstagsgruß auf dem Gesicht seiner Tochter Nagiko. Mit diesem Bild beginnt Peter Greenaway seinen neuen Film Die Bettlektüre. Zum alljährlichen Ritual liest ihre Tante Passagen aus dem berühmten „Kopfkissenbuch“, einem Klassiker der japanischen Literatur. Die Hofdame Sei Shonagon beschreibt in diesem Tagebuch das höfische Leben vor tausend Jahren, ihre erotischen Abenteuer, stellt Betrachtungen an über Gärten, Moden und menschliche Schwächen. Den Zusammenklang dieser beiden Rituale ihrer Kindheit sucht Nagiko (Vivian Wu), wenn sie sich später von ihren Liebhabern den Körper mit Kalligraphien beschriften läßt. Der beschriebene Körper wird zur erotischen Stimulanz, Liebe, Sex und Schriftkunst verschmelzen. Ihr englischer Liebhaber Jerome (Ewan McGregor aus Trainspotting) erweist sich zwar als schlechter Kalligraph, gibt jedoch eine vorzügliche Folie ab für Nagikos eigene Verse. 13 Gedichte zum Thema „Der Geliebte“, auf verschiedene Körper gepinselt, schickt sie ihrem Verleger, der ebenso versessen auf kalligraphische Kunstwerke wie auf männliche Körper ist. Als Bild im Bild klinkt Greenaway Zitate aus dem Kopfkissenbuch wie japanische Tableaus des höfischen Lebens in den Bilderrausch ein, die schwarz-weißen Reminiszenzen an das kindliche Geburtstagsritual werden mit den Räumen, den Kalligraphien, den ausgestellten Körpern und ihrer zum Kunstwerk erhobenen Nacktheit verwoben. So entsteht eine Sinfonie aus Bildern, Körpern, Tönen, Schriftzeichen, literarischer Kennerschaft und Erotik. Kalligraphie dient Greenaway jedoch auch als Metapher für Vergänglichkeit, Tod und Verrat, die – wie in all seinen Filmen – auch in der Bettlektüre zentral sind. Für Peter Greenaway muß Kunst sich ständig neu erfinden, um lebendig zu bleiben. Entsprechend vielschichtig komponiert er seine Filme und fordert wie kein anderer zeitgenössischer Filmemacher aktives Sehen. Die Bettlektüre läßt sich als kalligraphisches Kunstwerk Schicht für Schicht entziffern und auf verschiedenen Ebenen lesen. Literatur wird darin zum Liebesspiel, Körperbemalung zur Obsession, die japanischen Hieroglyphen sind Bild und Text zugleich und verbinden Kunst mit Sex, Liebe und Tod. Doch anders als in Greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber (1989) hat nicht der Tod das letzte Wort. Die visuellen Überlagerungen geraten nicht zum magisch-zerstörerischen Rausch wie in Prosperos Bücher (1991). Sie bleiben bei aller Opulenz zugänglich und geradezu heiter. Man muß sich nur hineinbegeben in Greenaways kalligraphisches Gesamtkunstwerk.
Gisela Kruse
Abaton, Alabama, Zeise
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