: Die Beratung der Lobetaler
■ »Verborgene Landschaft« — Kunst von geistig und körperlich Behinderten im Foyer des Deutschen Theaters
Mit Bildern, Skulpturen und Kunsthandwerk von geistig und körperlich Behinderten stellt sich die »Sonnenuhr« vor, Teil eines sich noch im Aufbau befindenden »Kulturellen Zentrums für Menschen mit geistiger Behinderung und Andere«. Auftakt der Ausstellung »Verborgene Landschaft« im Deutschen Theater sind »Bilder einer Freundschaft«. Ein Fotoroman erzählt die Liebesgeschichte von Franziska und Paul, zwei mongoloiden Jugendlichen.
Spaziergang in leuchtend roten Regenjacken, Tratsch in der Kaffeepause, Besuch eines Schloßparks. Dazwischen hängen Franziskas Liebesbriefe. Sie malt ein helles Haus in dunkler Nacht mit roterleuchteten Fenstern, aus denen je zwei Punkt-Punkt-Komma-Strich- Gesichter herausschauen: die Strichmünder aber sind paarweise mit einem dicken Balken verbunden, Franziskas Zeichen für Kuß. Auf einem anderen Blatt steht in der Mitte eine Flasche, links ein Glas »Mann«, rechts ein Glas »Frau« beschriftet: im jedem Detail liest sie die Geschichte ihrer Beziehung. Ihr Kalenderblatt »Alle Tage Liebel« soll dafür sorgen, keinen Tag auszulassen, etwas von diesem süchtigmachenden Gefühl zu kosten. Auf fragmentarische Symbole reduziert, schmilzt für Franziska die ganze Welt in Zweisamkeit zusammen. Dabei scheint in ihren Formulierungen die Grenze des Sagbaren auf, und jede verkürzte Form vermittelt die Anstrengung, darüber hinaus zu gelangen.
Texte, die die romantische Story von Franziska und Paul begleiten, thematisieren die Tabuisierung der Liebesprobleme Behinderter, die sich das Recht, zu zweit allein zu sein, erst erkämpfen müssen. Die inszenierte Fotogeschichte wird zum Medium der Selbstbehauptung; die Klischeebilder, besetzt von zwei mongoloiden Jugendlichen, erzählen zwar von ihrer Nachahmung konventioneller Formen, mehr aber noch von der Veränderung vorgefundenen Rollen durch ihre besondere Ich-Stärke.
Die Bilder einer Freundschaft, ein Beitrag der Lebenshilfe Marburg, bilden den Auftakt zur Ausstellung Verborgene Landschaft im Foyer des Deutschen Theaters Berlin. Mit dieser Vorstellung von Bildern, Skulpturen und Kunsthandwerk von körperlich und geistig Behinderten will Klaus Erforth für das Projekt »Sonnenuhr« werben. Seit einem Jahr arbeitet der ehemalige Regisseur mit seiner Frau Gisela Höhne am Aufbau eines »Kulturellen Zentrums für Menschen mit geistiger Behinderung und Andere«. Gerade an der Schnittstelle zweier Staaten, der ehemaligen DDR und der BRD, die trotz unterschiedlicher Ideologien Behinderte nur als Sozialfall wahrnahmen, befürchtet Erforth, daß im Geschwindigkeitsrausch einer auf Rentabilität, Leistung und Wirtschaftlichkeit setzenden Umstrukturierung Behinderte wieder nur als Hindernis betrachtet werden. Das Projekt »Sonnenuhr« will dagegen die politische und soziale Umbruchsituation nutzen, Behinderten und anderen neue Wege des gemeinsamen Erlebens zu öffnen. Erforth setzt auf die integrative Funktion der Kunst, die nicht nur den Behinderten die Entfaltung ihrer Fähigkeiten erlaubt: in Theaterspiel, Kunstaktionen, Fotografie und Musik sollen die Unbehinderten lernen, ihre Position der Überlegenheit aufzugeben und sich auf den anderen Rhythmus der Behinderten einzulassen.
Schon der Titel Verborgene Landschaft suggeriert, daß hier ein abgedrängter und unverfremdeter Teil der Kultur sichtbar gemacht werden soll. Doch die Ausstellung, der es um die Wahrnehmung der Behinderten als Individuen geht, befindet sich in einem Dilemma. Sie ordnet die Arbeiten nach Anstalten und Lehrern, führt sie vor als kleine, frei treibende Inseln in einem sonst sehr beschnittenen und regulierten Alltag. Texte von Eltern und Therapeuten ordnen die Entwicklung der visuellen Ausdruckskraft in die Lebensgeschichte der Behinderten ein, betonen deren Bedeutung für den kommunikativen Austausch; berichten auch von dem Ende einer hoffnungsvollen Entfaltung durch mangelnde finanzielle Mittel, institutionalisierten Alltag, Ruhigstellung. Einem Mädchen, das gerne in einer Metall- und Schmuckwerkstatt gearbeitet hätte und die lesen gelernt hat, um mehr über Material und Techniken zu erfahren, wird dieser Weg zur Eigenständigkeit nicht offenstehen; sie verliert durch die neue Personalpolitik wahrscheinlich sogar ihren Arbeitsplatz in einer geschützten Werkstatt. Eine große Figurengruppe kleiner Plastiken stammt von einem Jungen, der später unter der chemischen Keule von Psychopharmaka Lust, Willen und Kraft für die Gestaltung verlor. Neben den Landschaftsaquarellen von Mahasan Reimer, einer Autistin, steht der Bericht ihrer Mutter von der Bedeutung dieser fiktiven Reisen für die Öffnung des Mädchens gegenüber der Außenwelt. Diese Skizzen der Lebensumstände mitzugeben, war Erforth wichtig, um noch einmal die Notwendigkeit der Förderung und der Bereitstellung von Freiräumen zu betonen. Vor dieser Folie aber nimmt man die Arbeiten wieder als Dokumente eines sozialen »Falles« wahr.
In den »Hoffnungsthaler Anstalten« (aus Lobetal bei Bernau) arbeitet seit 1977 eine Bildhauerin mit den Patienten. Auf einem Plateau stehen Büsten, in denen die Lobetaler sich gegenseitig porträtiert haben. Die Ansammlung der Köpfe scheint eine eigene Beratung abzuhalten. Kein Gesicht gleicht dem anderen; als hätten sie die Köpfe aus der Erinnerung des Tastsinns geformt, erzählen deren unregelmäßige Oberflächen von den knetenden Händen. Bloße Gesichter ohne schützende Masken, unbeschönigt und doch nicht verzerrt, zeigen sich. Wunschbilder schieben sich zwischen die Beobachtung: die Büste von Norbert Müller, der einen Freund zum Modell nahm, gleicht vielmehr der eines jungen Mädchens. Merkwürdig berührt die Vorstellung der einzelnen Künstler auf einem jeweils an die Plastik gebundenen Paßfoto: in diesem Gestus schimmert eine Ahnung sowohl von dem Stolz der Identifikation mit dem Produkt der eigenen Hände auf als auch von einem Zustand des Gefangenseins und Kontrolliertwerdens.
Aus Lobetal kommt auch Detlev von Dossow, der seine Collage aus den Einwickelpapieren von Cream- Fudge-Bonbons, in der sich eine Kuh auf gelbem Grund an die andere reiht, geradewegs neben Warhols Tomatendosen hängen könnte. Ebenso konzentriert und puristisch benutzt er seine Mittel in einem Block aus schwarzem, gerissenem Papier.
Ein anderes Reißbild entstand als Gemeinschaftsarbeit geistig Schwerstbehinderter in einem Krankenhaus und markierte, in dieser Anstalt aufgehängt, lange ihren Treffpunkt. Aus dicken bunten Pappen sind handtellergroße Fetzen gerissen, manche mit Gesichtern bemalt: Sie illustrieren das Märchen von Hänsel und Gretel, die, von den Eltern ausgesetzt, ihren Weg nach Hause durch den Wald entlang einer Spur von Krümeln suchten. In der Collage werden die Papierfetzen zu den Krümeln, die den Behinderten in der Anonymität der Klinik den Weg zu einem Stückchen Heimat wiesen.
Erforth hat in seine Ausstellung auch kunsthandwerkliche Arbeiten aus therapeutischen Kunstzirkeln und Bilder von Körperbehinderten einbezogen, die eher traditionellen Spuren folgen und mehr an eine artistische Geschicklichkeitsübung erinnern denn an die verrückte Energie der geistig Behinderten. Die Puristen unter den Interessierten an der authentischen Ausdruckskraft der der üblichen Bildung Unzugänglichen verachten schon jegliche unter Mithilfe eines Kunstherapeuten entstandenen Werke als schlechte Kunst. Doch Erforth bewegt weniger die Suche nach dem von Reflexionen über die Funktion der Kunst unbelasteten Ausdruckswillen. Ihn berührt vielmehr die Isolation und alltägliche Diskriminierung, unter der die körperlich ebenso wie die geistig Behinderten zu leiden haben. Beide drücken ihre Erfahrungen des Mangels aus, verraten Wünsche und Ängste. Für beide will die »Sonnenuhr« Kunstformen als Lebensformen, in denen sie sich nach ihrem eigenen Zeitgefühl und aus der Perspektive ihrer verschobenen Wahrnehmungen einrichten können, zugänglich machen.
Bewundernd stehen die Normalen vor der produktiven Energie der Behinderten, manchmal fast neidvoll auf deren schöpferische Ökonomie blickend oder sie gar als eine ihrer Kolonien vereinnehmend (vgl. taz 28.11. »Hirnriß«). So gilt uns jetzt selbst das schriftliche Bekenntnis der Produktionsverweigerung als ein Stück unverstellter Mitteilung. Als Axel Salm keinen Bär und keinen Kater Kasimir mehr zeichnen wollte, schrieb er mit viel Druck auf den Bleistift: »ENDE . GEINNE . LUST . NICHT . MEER . VIEL . ZU . FAUL . AXEL .« Katrin Bettina Müller
Verborgene Landschaft im Foyer des Deutschen Theaters Berlin. Bis 12. Dezember mittwochs und freitags von 14.30 bis 16.30 Uhr und jeweils eine Stunde vor Vorstellungsbeginn geöffnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen