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Die Bedingungen der Frage: Was ist Philosophie?

 ■ Von Gilles Deleuze

Vielleicht kann man die Frage Was ist Philosophie? erst spät stellen, wenn mit dem Alter die Stunde gekommen ist, die Dinge beim Namen zu nennen. Eine solche Frage stellt man, wenn es nichts mehr zu fragen gibt — obwohl ihre Folgen beträchtlich sein können. Sie wurde schon früher gestellt, sie wurde immer wieder gestellt, jedoch zu künstlich, zu abstrakt; man trug sie vor, man setzte sie auseinander, man zähmte sie eher, als daß man sich von ihr hätte packen lassen. Es gibt Fälle, in denen das Alter zwar nicht die ewige Jugend schenkt, wohl aber eine souveräne Freiheit, eine reine Notwendigkeit, in der man einen Augenblick der Gnade zwischen Leben und Tod auskostet und in der alle Teile der Maschine noch einmal zusammenwirken, um einen Pfeil in die Zukunft abzuschießen, der die Zeiten durchquert: Turner, Monet, Matisse. Der alte Turner hat sich das Recht erworben oder erobert, die Malerei auf einen einsamen Weg zu führen, auf dem es keine Umkehr gibt und der sich von einer letzten Frage nicht mehr unterscheidet. Ebenso ist in der Philosophie die Kritik der Urteilskraft von Kant ein Alterswerk, ein entfesseltes Werk, dem seine Nachfahren immer nur hinterherlaufen werden.

Einen solchen Status können wir nicht beanspruchen. Für uns ist einfach die Stunde gekommen, uns zu fragen, was Philosophie ist. Wir hatten sie früher schon immer wieder gestellt, wir hatten auch schon die Antwort, die sich niemals geändert hat: Philosophie ist die Kunst, Begriffe [concepts] zu bilden, zu erfinden und zu erzeugen. Doch die Antwort mußte nicht nur die Frage aufnehmen, sie mußte auch eine Stunde, eine Gelegenheit, Umstände, Landschaften und Personen, die Bedingungen und Unbekannten der Frage bestimmen. Sie mußte „unter Freunden“ ausgesprochen werden wie eine Vertraulichkeit oder Vertrauenserklärung oder gegenüber einem Feind wie eine Herausforderung; und zugleich mußte sie auf jene Stunde der Abenddämmerung warten, in der man selbst dem Freunde mißtraut.

Deshalb brauchen die Begriffe Figuren, in denen sie personale Gestalt annehmen, Figuren, die zu ihrer Definition beitragen. „Freund“ ist eine solche Gestalt, von der es sogar heißt, sie bezeuge den griechischen Ursprung der Philo-sophie: die anderen Kulturen hatten Weise, doch bei den Griechen treten jene „Freunde“ auf, die nicht bloß bescheidenere Weise sind. Man sagt, die Griechen hätten den Tod des Weisen sanktioniert und diesen durch die Philosophen ersetzt, die Freunde der Weisheit, welche nach Weisheit suchen, sie aber formell nicht besitzen. Wenige Denker haben sich gleichwohl die Frage gestellt, was „Freund“ bedeutet hat, gerade und vor allem bei den Griechen. War mit „Freund“ eine gewisse sachkundige Vertrautheit gemeint, eine Art Sinn für etwas, oder ein Potential, wie das des Tischlers gegenüber dem Holz: der gute Tischler ist eine Potenz des Holzes, ist er der Freund des Holzes? Die Frage ist wichtig, da der Freund, so wie er in der Philosophie erscheint, nicht mehr eine äußere Gestalt, ein Beispiel oder einen empirischen Umstand bezeichnet, sondern etwas im Denken selbst Anwesendes, eine Bedingung der Möglichkeit des Denkens selbst, kurz: eine lebende Kategorie, ein transzendentales Erleben, ein konstitutives Element des Denkens. Und in der Tat tun die Griechen seit der Geburt der Philosophie dem Freund, der nicht mehr in Beziehung zu einem anderen, sondern zu einer Entität, Objektivität oder Wesenheit steht, Gewalt an. Sie kommt in der oft zitierten Formel zum Ausdruck, die zu übersetzen ist: ich bin der Freund von Peter, von Paul oder auch des Philosophen Platon, doch mehr noch Freund des Wahren, der Weisheit oder des Begriffs. Der Philosoph kennt sich aus mit Begriffen und fehlenden Begriffen; er weiß, welche untauglich, willkürlich und inkonsistent sind, welche keinen Augenblick lang tragen, und welche dagegen wohlgeformt und Zeugnis einer Schöpfung sind, wenn auch einer beunruhigenden oder gefährlichen.

Was heißt Freund, wenn er zur personalisierten Gestalt eines Begriffs wird, zur Bedingung für die Ausübung des Denkens? Vielleicht Liebhaber, ist er nicht eher Liebhaber? Und wird der Freund nicht wieder eine vitale Beziehung zum Anderen ins Denken einführen, die man aus dem reinen Denken verbannt zu haben glaubte? Oder handelt es sich gar um noch jemand anders als den Freund oder den Liebhaber? Denn Freund oder Liebhaber der Weisheit ist der Philosoph doch wohl, weil er um sie freit, weil er sich eher um sie in potentia bemüht, als daß er sie actus besäße. Also wäre der Freund auch der Freier, und diejenige, deren Freund er sich nennt, wäre die Sache, auf die sich seine Ansprüche richten, doch kein Dritter, der vielmehr zum Rivalen würde. Die Freundschaft enthielte ebensoviel eiferndes Mißtrauen gegen den Nebenbuhler wie verliebte Neigung zum Objekt des Begehrens. Wenn sich die Freundschaft dem Wesen zuwendet, stünden die beiden Freunde zueinander wie Freier und Nebenbuhler (doch wer sollte sie unterscheiden?).

Insofern würde sich die Leistung der griechischen Philosophie mit derjenigen der Stadtstaaten decken: untereinander und in jeder von ihnen Rivalitäten gefördert zu haben, die dazu führten, daß sich auf allen Gebieten Bewerber gegenüberstanden, in der Liebe, bei den Spielen, vor Gericht, bei der Ämtervergabe, in der Politik und sogar im Denken, das die Bedingung seiner Möglichkeit demnach nicht bloß im Freund, sondern auch im Bewerber und im Rivalen hätte (Platon definierte die Dialektik als amphisbetesis). Eine verallgemeinerte Wettkampfkultur. Der Freund, der Liebhaber, der Bewerber und der Rivale sind transzendentale Bestimmungen — die jedoch darum nichts an Intensität und Lebendigkeit einbüßen — einer einzigen oder mehreren Personen. Und wenn heute Maurice Blanchot, der zu den wenigen Denkern gehört, die den Sinn des Wortes „Freund“ in der Philosophie bedenken, diese innere Frage nach den Bedingungen des Denkens selbst aufnimmt, führt er nicht abermals neue personalisierte Begriffsgestalten ins Innere des reinsten Gedachten ein? Gestalten, die diesmal wenig griechisch anmuten, sondern von anderswo kommen und neue, lebendige Beziehungen mitbringen, die den Status apriorischer Figuren annehmen: eine gewisse Ermattung, eine gewisse Verzweiflung unter Freunden, welche die Freundschaft selbst in das Denken des Begriffs als unendliche Teilnahme und Geduld verwandelt.

Die Liste der personalisierten Begriffsgestalten ist nie abgeschlossen und spielt deshalb eine wichtige Rolle in der Entwicklung und in den Wandlungen der Philosophie; ihre Verschiedenheit muß begriffen werden, ohne sie auf die bereits komplexe Einheit des Philosophen zu reduzieren.

Der Philosoph ist der Freund des Begriffs, er ist Potenz des Begriffs. Das heißt, daß Philosophie nicht bloß die Kunst ist, Begriffe zu bilden, zu erfinden oder zu erzeugen, denn Begriffe sind nicht notwendige Formen, Funde oder Produkte. In einem strengeren Sinne ist Philosophie die Disziplin, die darin besteht, Begriffe zu schöpfen. Der Freund wäre demnach Freund seiner eigenen Schöpfungen? Immer neue Begriffe schöpfen: das ist der Gegenstand der Philosophie. Eben weil der Begriff geschaffen werden muß, verweist er auf den Philosophen als denjenigen, der ihn potentiell hat oder das Potential und die Kompetenz, ihn zu schöpfen. Daß man Schöpfung eher mit dem Sinnlichen und den Künsten in Verbindung bringt, ist dagegen kein Einwand, wenn man bedenkt, in welchem Maße die Kunst geistige Entitäten hervorbringt und wie sehr auch die philosophischen Begriffe „Sensibilia“ sind. In Wahrheit sind die Wissenschaften, Künste und Philosophien gleichermaßen schöpferisch, auch wenn es einzig der Philosophie zukommt, Begriffe im strengen Sinne zu schöpfen. Die Begriffe sind nicht fertig da und warten auf uns, so wie Himmelskörper. Es gibt keinen Himmel der Begriffe. Sie müssen erfunden, erzeugt oder besser geschaffen werden, und ohne die Signatur derer, die sie schaffen, wären sie nichts. Nietzsche hat die Aufgabe der Philosophie folgendermaßen bestimmt: Die Philosophen „müssen sich die Begriffe nicht nur schenken lassen, nicht nur sie reinigen und aufhellen, sondern sie allererst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen überreden. Bisher vertraute man im ganzen seinen Begriffen, wie als einer wunderbaren Mitgift aus irgendwelcher Wunderwelt“ (Werke, ed. Schlechta, Bd. III, S. 844); doch an die Stelle dieses Vertrauens muß Skepsis treten, und am meisten muß der Philosoph den Begriffen mißtrauen, wenn er sie nicht selbst geschaffen hat (Platon wußte das wohl, auch wenn er das Gegenteil lehrte...). Was wäre ein Philosoph wert, von dem man sagen könnte: er hat keinen Begriff geschaffen?

Wir sehen nun wenigstens, was Philosophie nicht ist: sie ist weder Kontemplation noch Reflexion noch Kommunikation, auch wenn sie bald das eine, bald das andere zu sein glaubte, denn jede Disziplin hat die Fähigkeit, sich ihre eigenen Illusionen zu erzeugen und sich hinter einem Nebel zu verbergen, den gerade sie hervorgebracht hat. Sie ist nicht Kontemplation, denn Kontemplation sind die Dinge selbst, wie sie sich bei der Schöpfung ihrer eigenen Begriffe zeigen. Sie ist nicht Reflexion, da niemand auf die Philosophie angewiesen ist, um über irgend etwas zu reflektieren. Man glaubt der Philosophie viel einzuräumen, wenn man sie zur Kunst der Reflexion macht, doch damit nimmt man ihr alles, denn die Mathematiker haben niemals auf die Philosophen gewartet, um über die Mathematik zu reflektieren, sowenig wie die Künstler für ihre Reflexion über Malerei und Musik; und es wäre ein schlechter Scherz, wenn man sagte, sie wären dann Philosophen: so sehr ist ihre Reflexion Teil ihrer jeweiligen Schöpfung. Und auch in der Kommunikation findet die Philosophie keine letzte Zuflucht, denn die Kommunikation bearbeitet potentiell nur Meinungen, um „Konsens“ herzustellen, nicht um Begriffe zu schöpfen.

Die Philosophie kontempliert nicht, reflektiert nicht, kommuniziert nicht, auch wenn sie für diese Aktionen und Passionen Begriffe schöpfen muß. Kontemplation, Reflexion und Kommunikation sind keine Disziplinen, sondern Mechanismen zur Bildung von Universalien in allen Disziplinen. Die Universalien der Kontemplation und später der Reflexion gleichen zwei Illusionen, denen die Philosophie schon entsagt hat, als ihr Traum, die übrigen Disziplinen zu beherrschen, ausgeträumt war (objektiver und subjektiver Idealismus); doch gewinnt sie auch keine Ehre, wenn sie sich jetzt den Universalien der Kommunikation zuwendet, die ihr eine imaginäre Herrschaft über die Märkte und Medien verleihen sollen (intersubjektiver Idealismus). Jede Schöpfung ist einzigartig, und der Begriff als genuin philosophische Schöpfung ist stets eine Singularität. Das erste Prinzip der Philosophie lautet, daß Universalien nichts erklären, sie sind ihrerseits erklärungsbedürftig. Man kann jene Definition der Philosophie als maßgeblich betrachten, die sie als Erkenntnis aus reinen Begriffen bestimmt, doch sie verfällt dem Verdikt Nietzsches: man wird nichts aus Begriffen erkennen, sofern man sie nicht zuvor geschaffen hat... Philosophieren heißt Begriffe schöpfen. Große Philosophen sind also sehr selten.

Sich selbst erkennen — denken lernen — nichts für selbstverständlich halten — staunen, „staunen darüber, daß das Seiende ist“: diese und viele andere Bestimmungen der Philosophie stellen gewiß interessante, wenngleich auf die Dauer langweilige Haltungen dar, die noch keine bestimmte Beschäftigung definieren, keine wirkliche Tätigkeit, nicht einmal aus pädagogischer Sicht. Denn Begriffe schöpfen heißt ja zumindest: etwas tun. Die Frage nach der Verwendbarkeit oder Nützlichkeit der Philosopie (oder gar nach dem Schaden, den sie anrichtet) muß entsprechend geändert werden.

Viele Probleme drängen sich vor den verwirrten Augen eines alten Mannes, der philosophische Begriffe und personalisierte Begriffsgestalten aller Art miteinander wetteifern sieht. Und vor allem sind und bleiben diese Begriffe mit einem Namen verbunden, die aristotelische Substanz, das cartesischeCogito, die Leibnitzsche Monade, die Kantische Bedingung, die Schellingsche Potenz, die Bergsonsche Dauer... Manche wählen ein ungewöhnliches, barbarisches oder schockierendes Wort, das ihre Begriffe bezeichnen soll, während sich andere mit einem geläufigen Ausdruck der Umgangssprache begnügen, der mit so fernen Obertönen aufgebläht wird, daß sie für ein nichtphilosophisches Ohr unhörbar zu werden drohen. Manche beschwören Archaismen, andere Neologismen, durchsetzen ihre Schriften mit fast verrückten etymologischen Exerzitien: Etymologie ist die ureigenste Disziplin philosophischer Kraftmeierei. Es muß dabei jedesmal eine seltsame Notwendigkeit dieser Wörter und ihrer Wahl als Stilelement geben. Die Taufe eines Begriffs weckt einen genuin philosophischen Sinn, der mit Gewalt und Unterstellung vorgeht und in der Sprache eine Sprache der Philosophie begründet, nicht nur ein Vokabular, sondern eine Syntax, die ans Erhabene oder an große Schönheit heranreicht.

Obwohl datiert, signiert und getauft, haben die Begriffe eine eigene Weise, nicht zu sterben, und müssen sich dennoch erneuern, ersetzen und verwandeln. Solche Zwänge geben der Philosophie eine bewegte Geschichte und Geographie, in denen alle Augenblicke und Orte bleiben, jedoch in der Zeit, und vergehen, jedoch außerhalb der Zeit. Wenn die Begriffe sich unaufhörlich verändern, stellt sich die Frage nach der Einheit, die den Philosophen noch bleibt. Ist es bei den Wissenschaften, bei den Künsten, die nicht begrifflich verfahren, genauso? Und wie steht es mit ihrer jeweiligen Geschichte? Wenn die Philosophie diese fortlaufende Schöpfung von Begriffen ist, fragt man sich natürlich, was ein Begriff als philosophische Idee ist, aber auch, worin die anderen schöpferischen Ideen bestehen, die keine philosophischen Begriffe sind, Ideen, wie sie den Wissenschaften und Künsten zukommen, die eine eigene Geschichte, ein eigenes Werden aufweisen und in eigenen, veränderlichen Bezügen zueinander und zur Philosophie stehen. Die Ausschließlichkeit der Schöpfung von Begriffen verleiht der Philosophie eine Funktion, aber keinen Vorrang, kein Privileg; es gibt genug andere Weisen zu denken und zu schöpfen, andere Weisen der Ideenbildung, die nicht über philosophische Begriffe führen, angefangen beim wissenschaftlichen Denken.

Und man kommt stets wieder auf die Frage zurück, wozu diese Tätigkeit der Schöpfung philosophischer Begriffe dient, insoweit sie sich von der wissenschaftlichen oder künstlerischen Tätigkeit unterscheidet: was zwingt uns denn, Begriffe und immer wieder neue Begriffe zu schöpfen, worin liegt die Notwendigkeit, wozu tun wir das? Was soll damit geschehen? Die Antwort, wonach die Größe der Philosophie gerade darin bestehe, zu nichts zu dienen, ist eine dümmliche Koketterie. Jedenfalls haben wir nie ein Problem mit dem Tod der Metaphysik oder der Überwindung der Philosophie gehabt: das ist unnützes, unerquickliches Gefasel. Man spricht heute vom Zusammenbruch der Systeme, dabei hat sich nur der Begriff des Systems geändert. Wenn es am Platze und an der Zeit ist, Begriffe zu schöpfen, wird die Operation, die dann statthat, stets Philosophie heißen und würde sich nicht einmal dann verändern, wenn man ihr einen anderen Namen gäbe. Die Philosophie würde ihren Platz freiwillig jeder anderen Disziplin überlassen, die ihre Funktion der Begriffsschöpfung besser erfüllte; doch solange die Funktion weiterbesteht, heißt sie noch immer und stets Philosophie.

Trotzdem wissen wir, daß der Freund oder Liebhaber als Bewerber nicht ohne Rivalen ist. Wenn also die Philosophie griechischen Ursprungs ist, wie man gern sagt, so deshalb, weil die polis — im Unterschied zu den Reichen und Staaten — den agon als Regel einer Gesellschaft der „Freunde“ erfindet, einer Gemeinschaft der freien Männer als Rivalen (Bürger). Es ist immer die gleiche Situation, die Platon beschreibt: Wenn jeder Bürger (als „Bewerber“) Anspruch auf etwas erhebt, stößt er notwendigerweise auf Rivalen, so daß man über die Berechtigung der Ansprüche muß urteilen können. Der Tischler beansprucht Holz, doch er stößt auf den Förster, den Holzfäller, den Zimmermann, die sagen: der Freund des Holzes, der bin ich. Wenn es darum geht, für die Menschen zu sorgen, gibt es zahlreiche Bewerber, die sich als Freund des Menschen präsentieren — der Bauer, der ihn ernährt, der Schneider, der ihn kleidet, der Arzt, der ihn behandelt, der Krieger, der ihn schützt. Nun ist in diesen Fällen der Rahmen, innerhalb dessen die Wahl getroffen werden muß, trotz allem ziemlich beschränkt. Anders in der Politik, wo jeder Beliebige alles Beliebige beanspruchen kann, in der athenischen Demokratie, so wie Platon sie versteht. Daraus ergibt sich für ihn die Notwendigkeit einer Neuordnung, bei der es um die Schaffung von Instanzen geht, die es möglich machen, über die Berechtigung der Ansprüche zu urteilen: und das sind die Ideen als philosophische Begriffe.

Aber sieht man nicht sogar dort alle Arten von Bewerbern aufeinandertreffen und sagen: der wahre Philosoph, das bin ich, ich bin der Freund der Weisheit und der Rechtmäßigkeit? Die Rivalität gipfelt in der Auseinandersetzung zwischen dem Philosophen und dem Sophisten, die sich um die Beute des alten Weisen schlagen, doch wie ist der falsche Freund vom wahren und der Begriff vom Trugbild zu unterscheiden? Der Simulant und der Freund: daraus wird ein ganzes platonisches Theater, das eine Vielzahl neuer personalisierter Begriffe auf die Bühne bringt, indem es sie mit den Fähigkeiten komischer oder tragischer Charaktere ausstattet.

In jüngerer Zeit mußte die Philosophie mit vielen neuen Rivalen die Klinge kreuzen. Zuerst waren es die Humanwissenschaften und vor allem die Soziologie, die sie beerben wollten. Da die Philosophie jedoch ihre Berufung, Begriffe zu schöpfen, zunehmend verkannt und sich auf Universalien zurückgezogen hatte, war nicht mehr recht klar, worum es eigentlich ging. Sollte sie zugunsten einer strengen Wissenschaft vom Menschen überhaupt auf die Schöpfung von Begriffen verzichten, oder ging es vielmehr darum, die Natur der Begriffe zu ändern, sie entweder in kollektive Vorstellungen oder in Weltanschauungen zu verwandeln, die von den Völkern, ihren lebendigen historischen und spirituellen Kräften geschaffen werden? Dann schlug die Stunde der Epistemologie, der Linguistik beziehungsweise der Psychoanalyse und der logischen Analyse. Bei jedem neuen Kräftemessen bekam es die Philosophie mit anmaßenderen, immer bedrohlicheren Rivalen zu tun, wie Platon sie sich nicht einmal in seinen komischsten Momenten vorgestellt hätte.

Die tiefste Schmach war schließlich erreicht, als sich Informatik, Werbung, Marketing und Design des Wortes bemächtigten, die „Schöpfung von Begriffen“ in „Kreation von Konzepten“ übersetzten und sagten: das fällt in unsere Bereiche, wir sind die Kreativen, wir kreieren die Konzepte! Wir sind die Freunde des Konzepts, wir geben es in unsere Computer ein. Information und Kreativität, Konzept und Unternehmen: darüber gibt es schon ganze Bibliotheken... Die allgemeine Entwicklung, die Kritik durch kommerzielle Verkaufsförderung ersetzt hat, ist auch an der Philosophie nicht vorbeigegangen. Das Simulakrum, die Simulation einer Nudelpackung ist zum wahren Konzept geworden, und Philosoph, personalisierte Gestalt des Konzepts, oder Künstler ist nun derjenige, der das Produkt — sei es Ware oder Kunstwerk — präsentiert. Aber wie könnte die Philosophie, eine alte Person, sich mit dynamischen jungen Angestellten auf ein Wettrennen einlassen, wie sollte sie ihnen im Wettlauf zu den Universalien der Kommunikation gewachsen sein, um den Begriff in Warenform zu bringen (Merz)? Je öfter Philosophie auf schamlose und einfältige Rivalen trifft, je mehr sie diese in sich selbst findet, desto mehr Begeisterung empfindet sie bei ihrer Aufgabe, Begriffe zu schöpfen, die eher Meteoriten sind als Waren. Sie hat ein irres Gelächter, das ihre Tränen trocknet. So ist also die Frage der Philosophie jener singuläre Punkt, an dem Begriff und Schöpfung in Zusammenhang miteinander stehen.

Die Philosophen haben sich nicht genügend mit der Natur des Begriffs als philosophischer Realität beschäftigt. Sie haben ihn lieber als gegebene Erkenntnis oder Vorstellung betrachtet, die aus den Vermögen der Begriffsbildung (Abstraktion, Verallgemeinerung) oder der Begriffsverwendung (Urteilskraft) zu erklären seien. Doch der Begriff ist nicht gegeben, er wird geschaffen, muß geschaffen werden; er wird nicht gebildet, sondern setzt sich als solcher selbst: Selbstsetzung. Beides schließt sich gegenseitig ein, denn was echte Schöpfung ist, vom Lebewesen bis zum Kunstwerk, verfügt ebendeshalb über die Fähigkeit der eigenen Selbstsetzung, eine autopoietische Eigenschaft, an der man es erkennt. Je mehr der Begriff geschaffen wird, desto mehr setzt er sich. Was von einer freien schöpferischen Tätigkeit abhängt, ist auch das, was sich unabhängig und notwendig an sich selbst setzt: das Subjektivste ist zugleich das Objektivste.

Es waren die Philosophen nach Kant, namentlich Schelling und Hegel, die dem Begriff als philosophischer Realität in diesem Sinne am meisten Aufmerksamkeit geschenkt haben. Hegel definierte den Begriff rigoros durch die Gestalten seiner Schöpfung und durch die Momente seiner Selbstsetzung: einerseits wird der Begriff in der Abfolge der Gestalten des Geistes vom Bewußtsein und in ihm geschaffen; andererseits setzt der Begriff sich selbst und vereint die Momente des Geistes im Absoluten des Selbst. Auf diese Weise zeigte Hegel, daß der Begriff nichts mit einer allgemeinen oder abstrakten Idee zu tun hat, die von der Philosophie als solcher unabhängig wäre. Der Preis dafür war freilich eine schrankenlose Ausweitung der Philosophie, die der unabhängigen Bewegung der Wissenschaften und der Künste so gut wie keinen Raum ließ, da sie mit ihren eigenen Momenten wieder Universalien aufrichtete und die Gestalten ihrer eigenen Schöpfung nur noch als Statisten, als Phantome behandelte.

Den Philosophen nach Kant ging es um eine universelle Enzyklopädie des Begriffs, welche die Schöpfung von Begriffen auf eine reine Subjektivität verwies, statt sich die bescheidenere Aufgabe einer Pädagogik des Begriffs zu stellen, welche die Bedingungen zu analysieren hätte, die in den seltenen schöpferischen Momenten als Faktoren gegeben sein müssen. Wenn Enzyklopädie, Pädagogik und kommerzielles Berufstraining die drei Zeitalter des Begriffs sind, kann nur das zweite uns daran hindern, von den Gipfeln des ersten in das absolute Desaster des dritten zu fallen, ein absolutes Desaster für das Denken, welcher soziale Nutzen auch immer vom Standpunkt des universalen Kapitalismus aus damit natürlich verbunden sein mag.

Aus dem Französischen von

Horst Brühmann

Der vorliegende Text ist das Vorwort zu dem demnächst bei Minuit erscheinenden Buch „Qu'est-ce que la philosophie?“. Zuerst erschienen ist der Text in der von Deleuze und Guattari herausgegebenen Zeitschrift 'Chimères‘, 8/1990.

Wir danken Gilles Deleuze für die freundlich erteilte Druckgenehmigung

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