: Die Balten pochen auf ihre Souveränität
■ Annullierung des Hitler-Stalin-Paktes und Wirtschaftsautonomie reichen den meisten Balten nicht mehr
Das 50 Jahre lange Leugnen hat man in Moskau aufgegeben, die offizielle Annullierung des Geheimabkommens zwischen Hitler und Stalin, das die Annexion von Lettland, Litauen und Estland ermöglichte, steht vor der Tür. Moskaus Angebot allerdings, den Balten jetzt wirtschaftliche Autonomie zu gewähren, scheint zu spät zu kommen. Die Warnungen der immer ohnmächtigeren Zentrale, „die bestehenden Grenzen in Frage zu stellen“, scheinen dem radikalen Flügel der baltischen Volksbewegungen eher Auftrieb zu geben. Die Forderung nach einem Austritt aus der Sowjetunion ist populärer denn je.
Die Menschenkette, die gestern die drei Hauptstädte der baltischen Sowjetrepubliken - Vilnius, Riga und Tallin miteinander verband, war die bislang eindrucksvollste Manifestation der dortigen Emanzipationsbewegung. Während in der Bundesrepublik die Auseinandersetzung um den deutsch -sowjetischen Nichtangriffspakt und die geheime Aufteilung der Interessensphären in Osteuropa kaum über den Kreis interessierter Historiker hinausreicht, ist sie in den baltischen Staaten der aktuelle Kulminationspunkt einer Massenbewegung.
Weil der Geheimvertrag die Annexion durch die Sowjetunion besiegelte, gilt er noch immer als der historische Fixpunkt - nicht nur für die Schrecken der Deportationen Anfang der 40er Jahre, sondern auch für die bedrückenden Lebensverhältnisse der Menschen in den baltischen Sojwetrepubliken heute. Deshalb läuft die dortige Debatte über das vor 50 Jahren unterschriebene Dokument zielstrebig darauf hinaus, daß das erlittene Unrecht durch eine grundlegende Veränderung des politischen Status quo wiedergutgemacht wird. Zumindest der radikale Flügel der „Volksfronten für die Perestroika“ in Litauen, Lettland und Estland fordert nicht weniger als die Loslösung von der Sowjetunion, die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit.
Konzessionen
kommen zu spät
Auch wenn in jüngster Zeit aus Moskau Signale einer Konzessionsbereitschaft zu hören waren, konnte das die Dynamik der Unabhängigkeitsbewegung nicht brechen. Die radikale Forderung bleibt populär. Weder das Zugeständnis wirtschaftlicher Autonomie noch die vorsichtigen Moskauer Annäherungsversuche an die historische Wahrheit konnten die Volksfronten zu moderateren Positionen bewegen. Ja, es scheint so, als würden die im Westen als spektakulär empfundenen sowjetischen Positionsänderungen in Sachen Hitler-Stalin-Pakt die baltische Offensive eher beflügeln.
Während Moskau mit seinen Zugeständnissen der Unabhängigkeitskampagne den Wind aus den Segeln nehmen wollte, fühlen sich die Volksfronten dadurch eher bestätigt. Was der Kreml anbietet, gilt bestenfalls als erster Erfolg, keinesfalls als Lösung des Konflikts.
Dabei hat Moskau in den letzten Wochen ernsthaft begonnen, das 50 Jahre alte Lügengebäude um den Geheimvertrag abzutragen. Was jüngst der Leiter der ZK-Abteilung für internationale Politik, Valentin Falin, bereits andeutete, wird in absehbarer Zeit der Moskauer Oberste Sowjet formell feststellen: die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls, mit dem Westpolen an Hitler, Ostpolen dagegen, Bessarabien, Finnland und die baltischen Staaten an die Sowjetunion verschachert wurden.
Hektischer Positionswechsel
Die vom Obersten Sowjet auf Betreiben der baltischen Abgeordneten eingesetzte Kommission empfiehlt schon jetzt die Annullierung des Protokolls - noch bevor dessen Existenz auch offiziell akzeptiert ist. Die Hektik, mit der jetzt das langjährige Dementi von der rückwirkenden Annullierung abgelöst werden soll, ist symbolträchtig. Sie steht für das Unbehagen an der aufbrechenden Debatte und ihren politischen Implikationen.
Kein geringerer als der Gorbatschow-Intimus und Chefideologe Alexander Jakowlew leitet die Kommission, die die offizielle sowjetische Interpretationslinie ausarbeitet. Was da in den nächsten Wochen veröffentlicht wird, ist ein von politischem Kalkül diktierter Kompromiß, der die historische Einschätzung des Paktes von dessen faktischen Konsequenzen sorgfältig abtrennt.
An der historischen Legitimität des Nichtangriffspaktes mit Hitlerdeutschland hält die Sowjetunion - mit einigem Recht auch weiterhin fest. Die Geheimabsprache hingegen wertet Jakowlew als „Abkehr von den Leninschen Normen der sowjetischen Außenpolitik“, als ein „Komplott“, das hinter dem Rücken der zuständigen Gremien - Politbüro, Oberster Sowjet und Regierung - geschmiedet worden sei. Das ist aber schon sein deutlichstes Zugeständnis an die Kritiker.
An den Grenzen Moskauer Interpretationsbereitschaft hingegen läßt Jakowlew keinen Zweifel: „Weder der Vertrag noch das Protokoll (haben) den rechtlichen und politischen Status Litauens, Lettlands und Estlands bestimmt. Eine Veränderung ihres Status erfolgte kraft anderer Umstände. Noch ausgeklügelter wäre es, wenn man nach irgendwelchen Wechselbeziehungen zwischen der derzeitigen Lage der drei Republiken und dem Nichtangriffspakt suchen wollte.“
Mit solch euphemistischen Umschreibungen feiert die sprachliche Verkleisterung aus der Zeit vor Gorbatschow fröhliche Urständ. Unmut und separatistische Neigungen in der Volksfront wird sie auf jeden Fall weiter anheizen. Denn hinter Jakowlews Formulierung „kraft anderer Umstände“ verbergen sich die erpreßten Beitrittsgesuche der baltischen Staaten, die erst nach der faktischen Annexion durch die Rote Armee an die UdSSR gestellt wurden. Und die „Wechselbeziehungen zwischen der derzeitigen Lage“ und der Geheimabsprache, die Jakowlew zurückweist, drängen sich jedem unbefangenen Beobachter auf.
Die historische Kette, die von der Abgrenzung der deutsch -sowjetischen Interessensphäre über die Stationierung sowjetischer Truppen und die formelle Angliederung bis zum heutigen Status der baltischen Staaten reicht, läßt sich auch mit Jakowlews ausgeklügelt-plumper Argumentation nicht auflösen.
„Internationales Verbrechen“
Die Kommission des Obersten Sowjets Litauens, die sich ebenfalls mit der Bewertung des Hitler-Stalin-Paktes beschäftigt, kam in ihrem am Dienstag veröffentlichten Bericht jedenfalls zu wesentlich klareren Positionen als ihr Moskauer Pendant: Die Annexion der baltischen Republiken durch die Sowjetunion qualifizierte sie als „internationales Verbrechen“.
Demgegenüber ist das Kalkül Moskaus offensichtlich und wurde jetzt auch von Valentin Falin in einem 'Iswestija' -Interview bestätigt: Die Debatte um den Pakt dürfe keinen Schatten auf die Rechtmäßigkeit der bestehenden Grenzen in Osteuropa werfen. „Das ist genau die destabilisierende Wirkung, die einige erreichen möchten.“ Und er schloß noch eine Warnung an: „Wenn die Bestrebungen fortgesetzt werden, zu trennen, was nicht zu trennen ist..., wenn Länder und Grenzen neu eingeteilt werden, während Leben und Sicherheit der Völker vernachlässigt werden, wird die schlimmste und diesmal die letzte Katastrophe heraufbeschworen.“
Austritt als Ziel
Daß sich die Volkfrontsbewegung in den baltischen Staaten an Falins Rat halten wird, ist mehr als zweifelhaft. Für den radikalen Flügel scheint der Austritt aus der UdSSR beschlossene Sache. In jüngster Zeit gibt es deutliche Radikalisierungstendenzen, denen sich selbst die Republiksowjets nicht mehr entziehen können. Das umstrittene estnische Wahlgesetz, das die Wahlbeteiligung von Nichtesten an eine bestimmte Aufenthaltsdauer knüpft, scheint die langjährige Benachteiligung der einheimischen Bevölkerung jetzt mit ähnlicher Münze heimzahlen zu wollen.
In jüngster Zeit haben sich in den drei Staaten Bürgerkomitees gegründet, in denen sich die einheimische Bevölkerung aus der Zeit vor der Annexion sowie deren Nachkommen registrieren lassen können. In Lettland hatten sich bis Ende Juli 214.000 Personen eingetragen. In Estland schwanken die Angaben zwischen 200.000 und 400.000. Sie sollen demnächst als eigentlicher Souverän fungieren: als Gegenmacht zu den - gemäß der sowjetischen Verfassung gebildeten - Staatsorganen.
Auch wenn es bislang kaum ernst zu nehmende Austrittsmodelle gibt - die Moskauer Linie heizt die Situation weiter an. Wovor Moskau noch immer zurückschreckt, wäre langfristig die sinnvollere Strategie gewesen: die Anerkennung des Geheimpakts und des Unrechs der Annexion. Das wäre die Plattform, auf deren Basis eine zukünftige Verständigung über weitere politische und wirtschaftliche Autonomieschritte hätten stattfinden können.
Moskaus Chance liegt immer noch darin, aus der Not mit der baltischen Nationalitätenbewegung eine Tugend zu machen: die industriell relativ gut entwickelten baltischen Staaten als Experimentierfeld für den ökonomischen und politischen Umbau zu nutzen. Moskaus halbherziger Versuch der Vergangenheitsbewältigung allerdings stärkt eher die radikalen Kräfte, die nicht auf den Kompromiß, sondern auf den Bruch mit Moskau setzen.
Matthias Geis
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