■ Die Awacs auf dem Marsch nach Karlsruhe: Schlag gegen den Parlamentarismus
Eine politische Groteske nannten Sprecher der SPD gestern die Entscheidung der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen, erst einen Teil des Kabinetts zu überstimmen und dann nach Karlsruhe zu laufen. Tatsächlich sieht es schon sehr nach Mummenschanz aus, wenn der Außenminister und FDP- Chef in spe, Klaus Kinkel, sich den bislang angedrohten Rückzug aus der Regierung mit der Erlaubnis, in Karlsruhe klagen zu können, abkaufen läßt. Die vermeintliche Groteske könnte sich aber zuletzt als wohldurchdachte Strategie der Union entpuppen, im Verein mit einem Teil der FDP der Opposition ihr Mitspracherecht über die zukünftige Verwendung der Bundeswehr aus der Hand zu schlagen.
Seit zwei Jahren testen Kohl und Rühe systematisch aus, wie breit die verfassungsrechtliche Grauzone bei der Verwendung der Bundeswehr außerhalb des Nato-Vertragsgebietes eigentlich ist. Wahlbeobachter in Namibia, Minenräumboote im Persischen Golf, Blockadebeobachter in der Adria und Sanitätskompanien nach Kambodscha – immer wieder preschte die Union vor, war Kinkel der Meinung, das sei nun gerade noch zu machen, und wurde die SPD vor vollendete Tatsachen gestellt, um sogleich mit dem Verfassungsgericht zu drohen. Dabei gibt es für die anstehenden Entscheidungen keine ungeeignetere Instanz als das Bundesverfassungsgericht. Warum sollen sieben Richter und eine Richterin die eminent politische Entscheidung treffen, ob die Bundesrepublik zukünftig wieder mit militärischer Macht weltweit präsent sein soll oder nicht?
Von der Sache her ist es ganz einfach. Sowohl die SPD als auch die FDP – und bis vor knapp zwei Jahren auch noch die große Mehrheit der Union – waren sich einig, daß das Grundgesetz die Bundeswehr auf die Verteidigung des eigenen Territoriums (eine Konzession war bereits, Territorium als Nato-Vertragsgebiet zu definieren) festlegt. Geändert hat sich seither nicht etwa das Grundgesetz, sondern die Vorstellung vom Einsatz der Bundeswehr. Kohl, aber auch Kinkel, wollen weltweite Kampfeinsätze, die SPD nicht. Seit sich herauskristallisiert, daß die SPD zumindest in dieser Legislaturperiode zu einer Grundgesetzänderung für out of area nicht mehr zu haben ist, setzt die Union auf Uminterpretation durch gezielte Regelverstöße. Die Awacs-Entscheidung wird zur Krönung dieser Strategie. In einer Eilentscheidung soll das Bundesverfassungsgericht über die Zulässigkeit eines Einsatzes in den Wolken über Bosnien entscheiden. Läßt das Gericht sich nicht unter Druck setzen und lehnt eine Eilentscheidung mit Verweis auf eine Entscheidung im Hauptverfahren ab, wertet dies die Bundesregierung als stillschweigende Zustimmung und läßt die Soldaten im Cockpit. Dies wäre ein Triumph der Macht des Faktischen. In diesem Fall, so die Union, werde sich die Notwendigkeit einer Klarstellung oder Änderung des Grundgesetzes anders stellen.
„Anders“ aber meint in diesem Falle „gar nicht“. Die SPD wäre per Awacs-Einsatz endgültig ausgeschaltet. Und der Parlamentarismus hätte sich dann auch fast erledigt. Jürgen Gottschlich
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