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Archiv-Artikel

Die Aussichten: strahlend

„Es ist wie mit Recycling-Papier: Es kostet mehr und wird dennoch produziert“, sagt Kenji Abe, der Mann von der Betreiberfirma

AUS ROKKASHO MARCO KAUFFMANN

Vom Gedränge japanischer Städte ist man in Rokkasho Welten entfernt. Wälder, Wiesen und Weiden, vereinzelt Bauernhöfe. An einer einsamen Kreuzung flimmert über einen Videoschirm die Botschaft: „Seien wir erfolgreich mit der Wiederaufbereitungsanlage.“ Es klingt wie eine Mahnung. Für Herrn Kenji Abe von der Betreibergesellschaft ist es das mit Sicherheit. Ein paar Autominuten entfernt stößt er mit aller Kraft eine meterdicke Panzertür auf. Sechs kreisförmige Stationen liegen dahinter, an denen Männer in Overalls sitzen und auf Bildschirme starren – die Zentrale der Atomanlage der Japan Nuel Fuel Limited (JNFL) in Rokkasho.

Von einer Station aus wird die Uran-Anreicherungsfabrik observiert, von einer zweiten das Zwischenlager, die dritte Station ist für die Kontrolle der Wiederaufbereitungsanlage gedacht. Gedacht. Denn mit ihr hat die Firma so ihre Sorgen – sie hätte längst fertig sein sollen und längst nicht so viel Geld verschlingen dürfen. Eigentlich sollte die Anlage 1999 in Betrieb gehen. Später wurde das Jahr 2005 anvisiert. Heute ist ungewiss, ob die Anlage 2006 anläuft. Gleichzeitig schnellten die Kosten von 700 Milliarden Yen – umgerechnet 5,2 Milliarden Euro – auf unvorstellbare 2,2 Trillionen Yen.

Kosten haben keine Priorität, sagt Kenji Abe. Schließlich werde die Fabrik zur Aufbereitung von verbrauchten Brennstäben die Lücke im japanischen Atomzyklus schließen. Das hält nicht nur er für wichtiger.

Bislang wurden die Brennstäbe aus den 52 japanischen Atomkraftwerken über die halbe Welt verschifft, in die Wiederaufbereitungsanlagen von Sellafield in Großbritannien und ins französische La Hague. Doch die Verträge sind ausgelaufen, die Lieferungen nach Europa eingestellt, und in den AKWs stapeln sich verbrauchte Brennstäbe. Mit anderen Worten: Es eilt. Rokkasho, das Bauerndorf am nordöstlichsten Zipfel der japanischen Hauptinsel Honshu, soll den Müll übernehmen und verwerten. Das Ziel: mehr atomare Autonomie für die zweitgrößte Volkswirtschaft, die ihren Energiehunger zu einem Drittel aus Atomkraftwerken stillt und bis 2010 elf weitere bauen will.

Vom Firmenwagen aus zeigt Herr Abe den Atompark. Die Wiederaufbereitungsanlage wirkt von außen wie ein Logistikzentrum: fensterlos, frisch gestrichen in den Firmenfarben grün und blau. Die Anlage arbeitet noch nicht. „Wir warten auf die Bewilligung der Gemeinde und der Präfektur für weitere Tests“, sagt Abe. Zwei von vier Teststufen wurden durchlaufen, die atomaren Brennstäbe schwimmen im Kühlbecken, doch nun stehen die heiklen Urantests an. Ein Jahr ist dafür eingeplant; für Stufe vier, bei der die Brennstäbe getestet werden, weitere 14 Monate.

Unterstützt werden die japanischen Ingenieure von 50 französischen Kollegen. La Hague diente als Vorbild für die Wiederaufbereitungsanlage in Rokkasho. Abe würde den ausländischen Experten, die mit ihren Familien im „Franzosendorf“ Shimoda wohnen, keinesfalls die Schuld für die Verzögerungen geben. Gleichwohl scheint ihm die französische 35-Stunden-Woche sonderbar.

Der JNFL-Wagen stoppt vor einer Baracke. „Aussichtspunkt auf das Lager für leicht radioaktiv verstrahlten Abfall“ steht darauf umständlich geschrieben. Dieser Sektor des 740 Hektar großen Geländes ist bereits voll funktionstüchtig. Vom Dach der Baracke überblickt man eine rechteckige Mulde mit 16 Betonkammern, jede hat Platz für 13 gelbe Müllfässer. Sind die Kammern voll, wird die Mulde mit Erde zugedeckt. „Das wird vermutlich in neun bis zehn Jahren so weit sein“, sagt Kenji Abe. „Die Atomkraftwerke produzieren heute eben weniger Abfall.“ Dass das auch daran liegen kann, dass zahlreiche AKW nach einer Serie von Unfällen und Vertuschungsskandalen in den vergangenen Jahren herunterfahren mussten, das sagt Herr Abe nicht.

Dabei liegt der letzte Unfall nicht sehr lang zurück: Am 9. August starben vier Arbeiter in Mihama, nachdem ein Kühlungsrohr aus dem Jahr 1976 geborsten war. Die Kansai Electric Power Company – sie ist wie andere große Stromkonzerne ebenfalls an der JNFL beteiligt – hatte Sicherheitswarnungen monatelang ignoriert. Das Vertrauen der Bevölkerung in die privaten AKW-Betreiber ist angeschlagen, und Japans Zeitungen schreiben nun, der Staat müsse eingreifen.

Hat die Serie von Zwischenfällen Auswirkungen auf das Bewilligungsverfahren für die Wiederaufbereitungsanlage? Kenji Abe zieht Luft ein und sagt: „Wir haben andere Systeme als in Mihama.“ Ein solcher Unfall sei in Rokkasho daher auszuschließen. Dann präzisiert er: Er sage nicht, der Unfall habe keinen Einfluss, schließlich sei die JNFL „auf dem gleichen Feld“ tätig.

Auch in Rokkasho haben sich schon Zwischenfälle ereignet. Zuletzt im Juli, als leicht radioaktives Wasser austrat. Im gleichen Monat wurde ein Bericht publik, wonach die Wiederaufbereitung von Brennstäben viermal so viel koste, als wenn man sie in einer Deponie entsorgen würde. Diesen Bericht hatte das japanische Wirtschaftsministerium, das den Bau der Anlage in Rokkasho vorantreiben wollte, zehn Jahre unter Verschluss gehalten. Kosten hätten eben keine Priorität, kontert JNFL-Mann Abe. Es sei wie mit Recycling-Papier: „Es kostet mehr und wird dennoch produziert.“

Das Fahrzeug der Betreibergesellschaft passiert mehrere Kontrollschranken. Wachleute wollen Ausweise sehen. Im Besucherzentrum – auf anglo-japanisch „PR-centa“ genannt – erzählt Abe, dass seine Firma „Public Acceptance“ anstrebe und nicht einfach PR betreibe. „Unsere Anlage ist auf Rückhalt in der Bevölkerung angewiesen. Sie soll verstehen, was wir hier machen.“ Zu ihrer Unterstützung hat die Firma zwei Comic-Figuren erfunden: Pluto (wie Plutonium) und Ura (wie Uran). Sie weisen den Besuchern den Weg durch einen Mini-Atompark, vorbei am Kühlbecken für Brennstäbe, hinunter in ein nachgebautes Zwischenlager für Atommüll. Draußen soll ein weitläufiger Spielplatz entspannte Normalität verbreiten.

Ein 10 Meter breites Spruchband spannt sich über eine Brücke, es zielt bereits auf das nächste Großprojekt in Nippons Norden: „Rokkasho – das neue Weltzentrum für High-Tech-Forschung“. Japan hofft, dass der internationale Kernfusions-Versuchsreaktor ITER nicht in Frankreich, sondern Japan gebaut wird (siehe Kasten).

Anti-Atomkraft-Parolen sieht man keine, was nicht bedeutet, dass es in Rokkasho, diesem weitläufigen Ort mit 11.000 Einwohnern, keine Gegner gäbe. Keiko Kikukawa zum Beispiel. Die 56-Jährige im orangen Faserpelz. Sie ist in Rokkasho geboren, zog später nach Tokio und kehrte 1990 zurück in die Heimat – aus politischen Gründen. „Das Reaktorunglück von Tschernobyl war 1986 der Auslöser, um mich gegen die Atomtechnologie zu engagieren.“ Sie wollte in Rokkasho zunächst biologisches Gemüse anbauen. Doch die Grossisten seien skeptisch gewesen, Gemüse von der Atomhalbinsel zu kaufen. Nun züchtet Kikukawa Tulpen. „Das raue Klima ist dafür geschaffen.“

Kikukawa fordert nicht den sofortigen Atomausstieg Japans. Das wäre wohl zu viel verlangt. Aber dass die Wiederaufbereitungsanlage eröffnet wird, das möchte sie zumindest verhindern, erzählt sie leise. Aber es sei schwierig, den Widerstand zu organisieren. Kürzlich erst habe sie in der Provinzhauptstadt Aomori einen Hungerstreik veranstaltet. Für einen Demonstrationszug waren sie zu wenig Leute, deutet Kikukawa an. Hungern sei daher die wirksamste Form des Protests. Richtig kämpferisch klingt das nicht. „Wir haben in Japan die ungeschriebene Regel, nicht gegen die Obrigkeit aufzubegehren.“ Und zumindest in der Provinz scheint man sich daran noch zu halten.

Das spürte Kikukawa, als sie an einem Fest auf ihrem Hof Pamphlete gegen die Atomanlage auslegte. Von einigen Nachbarn wird sie seither geschnitten. Andere zeigten Sympathien für ihr Anliegen, wollten aber nicht offen dazu stehen. Warum auch, wenn sogar Lokalpolitiker, die im Wahlkampf gegen die Wiederaufbereitungsanlage eingetreten sind, nach der Wahl umfielen. „In Rokkasho bestreitet die Betreibergesellschaft JNFL zwei Drittel des Steueraufkommens“, sagt sie. Das Dorf sei von den Strombetreibern gekauft worden, behauptet Kikukawa. Was sagt der Gemeindepräsident von Rokkasho zu diesem Vorwurf? Kenji Furukawa ist während mehrerer Wochen unabkömmlich, gleichermaßen beschäftigt sind seine Beamten. Eigentlich hat die Provinz Aomori durchaus eine Tradition für rebellische Politiker. 1995 verweigerte der damalige Gouverneur einem Schiff mit radioaktiven Abfällen, in Aomori anzulegen. Erst als ihm die Zentralregierung in Tokio zusicherte, der Müll würde nicht dauerhaft in seiner Provinz eingegraben, gab die Küstenwache den Weg frei. Wo radioaktiver Müll in Japan langfristig gelagert werden soll, ist nach wie vor unklar.

Misstrauen gegenüber der Nationalregierung ist in der Provinzverwaltung Aomori auch heute noch zu hören. Es sei „eine unerfreuliche Sache“, dass in Tokio ein Bericht über die Kosten der Wiederaufbereitung in Tokio zehn Jahre unter Verschluss gehalten worden sei, sagt Yoshiki Hachinohe von der Abteilung Energie. Allerdings basiere dieser Bericht auf dem Wissenstand von 1994. Eine nationale Kommission kalkuliere derzeit die Kosten neu. Könnte dies dazu führen, dass die Anlage in Rokkasho gar nie eröffnet wird? „Ich weiß nicht, was der Gouverneur denkt“, antwortet Hachinohe, während er kräftig seine Hände knetet und lächelt. Er persönlich glaube nicht, dass das Projekt gestoppt wird. Die Anlage sei schließlich zu 95 Prozent gebaut.