: Die Allmacht der Nukleokraten
■ Die Ingenieure der „Ecole des Mines“ kontrollieren die französische Atomenergie–Behörde, den staatlichen Elektrizitätskonzern und die Ministerien / Eine Eliteschule aus der Zeit Napoleons / Regierung ohne Atommafia hilflos
Von M. Schneider und G. Blume
Paris (taz) - Paris, Boulevard Saint Michel. Ein unscheinbares Schild am Eingang eines historischen Gebhäudes verweist auf die traditionsreiche Ingenieurschule „Ecole des Mines“. Hinter dunklen, von der Zeit gezeichneten Mauern liegt das Nest der Nukleokraten. Schuldirektor Jacques Levy ist ein kleiner und bescheidener Mann: „Unsere Schule ist ein Verfahren, das dazu dient, die kompetentesten Leute auf die entscheidenden Posten zu bringen.“ Nichts auf der Welt scheint Herrn Levy normaler. Kein Wunder: Das war schon immer so. Ob Kanonen für Napoleon oder Atombomben für De Gaulle - seit Colbert unter Ludwig XIV. regierte, kommen die Ideen von Frankreichs allmächtiger Technokratie. Die Nukleokraten sind ihre letzte Generation. Ohne sie hätte es den Atomstaat Frankreich wohl nie gegeben; ihre „Kompetenz“ wies den Politikern stets den Weg zur Entscheidung. Unter der Obhut von Herrn Levy gedeiht heute Nachwuchs. Nur die zehn Besten der von Napoleon gegründeten polytechnischen Ingenieurschule werden jedes Jahr in Levys „Corps des Mines“ aufgenommen, die „Elite der Elite“, eine Freimaurerschaft der Technokraten - verbrüdert fürs Leben. Das mächtige „Kommissariat für die Atomenergie“ (CEA) ist ihre Heimatstätte, die Ministerien sind ihre Spielwiesen, der staatliche Elektrizitätskonzern und AKW–Betreiber „EDF“ unterliegt ihrer Kontrolle. Die Nukleokraten sind überall. Unter Napoleon, in den ersten Kriegen gegen Österreich und England errang der „Corps des Mines“ seine Macht. Der Eroberer begriff schnell, woher das Metall für die Kanonen, die Mineralien für das Schießpulver und die Kohle für die Energieversorgung kamen - aus den Minen. Der „Corps des Mines“ wurde gegründet, ein „System der Elitebildung“ (Levy), um dem Herrscher die besten Ingenieure des Landes an die Hand zu reichen. Seither verlor der Bergbau an Bedeutung, der „Corps des Mines“ aber blieb. Levy ist der Chef der Brüderschaft von heute 470 „Corpsards“. 270 von ihnen besetzten Schlüsselstellungen in der Industrie, 200 erarbeiteten in den Ministerien die entscheidenden Dossiers. Levy nennt den Staatscorps eine „französische Besonderheit“. In keinem anderen industriellen Land sind Staat und Technokratenelite derart verwachsen. „In Frankreich entscheiden Leute mit wis senschaftlicher Bildung über das Allgemeininteresse“, erklärt Levy, „anderswo sind es die Politiker“. Die Atomindustrie war von Anfang an von Allgemeininteresse. Seit der „corpsard“ Pierre Guillaumat 1950 die Leitung des CEA übernahm, beherrschen die Technokraten die französische Verteidigungs– und Energiepolitik. Das CEA, nur dem Premierminster unterstellt, entwickelte sich zu einem gewaltigen Industrie– und Forschungskomplex und steuerte Frankreich bis Ende der sechziger Jahre unangefochten ins atomare Alles oder Nichts. Nicht De Gaulle hat das Land die Atombombe zu verdanken - wie oftmals fälschlich angenommen, sondern Pierre Guillaumat, graue Eminenz, die kaum ein Franzose kennt. Guillaumat ist der erste Prototyp des Nukleokraten. Ein Jahrzehnt lang führte er die verschiedenen Regierungen der IV. Republik - oft in Opposition zur Bombe - an der Nase herum. Als De Gaulle an die Macht kam, war die Bombe produktionsreif. Guillaumat wurde Verteidungsminister. Nun standen den Nukleokraten die Türen zu den Ministerkabinetts offen. Mit der Ölkrise geriet in den siebziger Jahren das nationale Monopol „EDF“, der Welt größtes Elektrizitätsunternehmen, ins Zentrum der Atompolitik. Über 25 Mio. Stromabnehmer, 125.000 Angestellte, 43 Mrd. DM Umsatz und 70 Mrd. DM Schulden: EDF, Gigant auf allen Ebenen, ist heute verantwortlich für den Betrieb von 45 Atomkraftwerken (16 weitere sind noch im Bau). Unter der Aufsicht des Industrieministeriums entgeht auch EDF nicht dem Einfluß der Nukleokraten. Ganz im Gegenteil: Der Elitewechsel von CEA zu EDF verursacht keine Probleme. Unser Interviewpartner Remy Carle, einer der mächtigsten Männer im französischen Atomgeschäft ist da nur ein Beispiel. Querschläger in der Einflußsphäre der Nukleokraten gab es nur selten. Der bedeutendste unter ihnen war Jean Servant. Als Schulfreund des ex–CEA–Chefs und heutigen Verteidigungsministers Andre Giraud (auch ein „corpsard“) avancierte Servant 1978 zum obersten Kommissar für Atomsicherheit. Giraud war damals Industrieminister. Cattenom–Gegner Servant machte Ärger. Er nahm die Sicherheitsprobleme der AKWs ernst. „Als meine Arbeit konkret wurde, empfand der Industrieminister dies als störend“, erzählt Servant heute, „und die Alternative hieß bald: „Entweder ich oder Giraud“. Servant trat freiwillig zurück. „Es ist sehr nützlich, wenn die Deutschen heute wegen Cattenom unerbittlich sind und viele Fragen stellen - selbst für die Franzosen“, gibt er uns eindringlich zu verstehen. Fragen haben seinerzeit auch die Franzosen gestellt. Noch früher als in der Bundesrepublik begannen in den siebziger Jahren die Anti–AKW–Proteste. Der Kampf galt EDF, dem „Staat im Staat“, den Nukleokraten und der Pariser Allmacht - bundesdeutsche Anti– Atommoral war wenig gefragt. Gegen die AKW–Bauprojekte verteidigte die Provinz das eigene Land, Wein und Gemüse. Der Widerstand traf den Staat ins Herz seiner Organisation und zwang ihn zur Unnachgiebigkeit. Die Nukleokraten gewannen mit einer gigantischen EDF–Propagandaschlacht, die Bewegung verlor mit dem Glauben an die Linke und der Hoffnung auf den Pariser Machtwechsel. So regieren die Nukleokraten fort. Unantastbar und unsichtbar. Nach Tschernobyl schwiegen sie einfach zehn Tage lang. Die Politiker, so dumm wie sie ohne ihre Ratgeber nun einmal sind, machten Frankreich vor der Welt lächerlich, als sie hilflos verkündeten, die radioaktive Wolke hätte das Land gar nicht erreicht. Im Widerstand gegen die AKWs war man der Pariser Machtelite schließlich nicht zum ersten Mal unterlegen. Französische Geschichte lebt vom Spannungsfeld zwischen revolutionärem Elan und Bonapartismus. Napoleons Erbgut lebt. Die Nukleokraten tragen es weiter.
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