: Dialog von Fuß und Schuh
Leisten von Fagus sind seit fast hundert Jahren ein Garant für Schuhe mit guter Passform. Vom Recht der Zehen auf freie Entfaltung, von pflastermüden Polizisten und dem endlosen Kampf um die Reststöckelfähigkeit der Damenwelt
VON NIKE BREYER
No news is good news. Hier stimmt der Satz einmal: Bekommen wir keine Rückmeldung von unseren unteren Extremitäten, so deshalb, weil es ihnen gut geht. Spüren wir dagegen unsere Füße durch ein Stechen, Brennen, Druckgefühl, zeigt dies eine Funktionsstörung an. Mit großer Wahrscheinlichkeit rebelliert unser Fuß, weil der Schuh, der verflixte, nicht passt, er dem Fuß seine Form aufzwingen will.
Obwohl preisgünstige Herstellungsmethoden und die Wissenschaft seit langem die Voraussetzungen geschaffen haben, fußgerechtes Schuhwerk in großem Maßstab herzustellen, sind solche Erlebnisse noch immer weit verbreitet. Das hat Gründe: Ob etwas passt, ist nämlich eine diffizile Angelegenheit – oder, wie es Prof. Erne Maier formuliert hat: „Die Auseinandersetzung zwischen Fuß und Schuh ist wissenschaftlich schwer zu objektivieren.“ Immerhin hat gerade Maier durch seine berühmten Trittspuruntersuchungen an Kinderschuhen schon vor vierzig Jahren zu dieser Objektivierung maßgeblich beigetragen. Es gibt heute wissenschaftliche Kriterien, nach denen sich fußgerechte Passform beschreiben lässt. Anatomie und orthopädische Wissenschaft haben in den letzten hundert Jahren auf diesem Gebiet sprunghafte Fortschritte verzeichnet. Wobei die entscheidenden Erkenntnisse bereits im letzten Drittel des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewonnen wurden. Allerdings hat das Passen auch eine andere, subjektive Seite und gehört damit in den Bereich der kulturell vermittelten Körpergefühle. Diese wiederum haben mit Schönheitsvorstellungen, Körperbildern zu tun, wie die Kulturanthropologen sagen.
In der Regel konkurrieren in neuerer Zeit mindestens zwei Körperbilder um die kulturelle Hegemonie, etwa der – wahlweise biologistisch oder romantisch gefasste – Naturkörper (unrasierte Frauenbeine, „Sauerkrautbart“) mit dem durch Disziplinierungsmaßnahmen in unterschiedliche Formen gebrachten Kulturkörper (Korsett, Push-up, Waschbrettbauch, Stilettos). Wobei beide Körperbilder gerade im Begriff sind, historisch zu werden, da sie durch den remanufakturierten Kunstkörper (Skalpell, Silikon – auch in der Fußsohle!) als ästhetisches Leitbild und als Realität zunehmend verdrängt werden.
Aber zurück zur Passform von Schuhen, auf die dann, mittelbar, die geschilderten Körperbilder Einfluss nehmen. Doch dafür gilt es, zuvor zu klären, wie die zitierte Passform in den Schuh gelangt. Man benötigt dazu ein entscheidendes Werkzeug: den Schuhleisten. Er ist nicht nur ein technisches Hilfsmittel, sondern er fungiert, indem er während der Produktion das Schuhinnere füllt, auch als Bodybuilder des Schuhs. Das heißt, er definiert dessen Volumen und den späteren Dialog zwischen Fuß und Schuh. Damit dieser zwanglos funktioniert, braucht der Leisten eine „gute Form“. Diese beruht auf einer diffizilen „Mischkalkulation“ aus folgender Trias: fußfreundlichen Konstruktionsmaßen, zeitgebundener Vorstellung von modischem Chic und produktionstechnischen Faktoren. Der Rang einer Leistenfabrik bemisst sich danach, mit welcher Verantwortung sie diese Komponenten in Einklang bringt – gegebenenfalls auch gegen den Trend und das Dogma von der „Weisheit“ des Marktes, der angeblich durch selbsttätigen Ausgleich von Angebot und Nachfrage optimale Versorgung sicherstellt.
Für Schuhe hat dies noch nie gestimmt. Schon vor 150 Jahren sah sich der Vater der modernen Fußbekleidung, der Zürcher Anatom Hermann Georg Meyer, in seiner Schrift über „Die richtige Gestalt der Schuhe“ (1858) bemüßigt, seine Zeitgenossen zu ermahnen: „Die Fußbekleidung hat die Aufgabe, ihrem Zweck, der Beschützung des Fußes, nachzukommen; sie hat aber nicht die Aufgabe, an der Gestalt unseres Fußes herumzupfuschen.“
„Fagus, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, so firmiert die neue unter Führung des Herrn C. Benscheidt hierselbst entstehende Schuhleistenfabrik“, war am 11. April 1911 in der Niedersächsischen Volk-Zeitung zu lesen, und: „Man liebt ja neuerdings die kurzen prägnanten Firmen- und ähnliche Bezeichnungen, und da lässt sich nicht leugnen, dass die Firma Fagus den Vorzug der Kürze besitzt, dabei leicht im Gedächtnis haften bleibt. Da, wie uns gesagt wird, in der neuen Fabrik keine Handelsware, sondern nur Spezialfabrikate hergestellt werden sollen, so sind verhältnismäßig weniger Gebäude erforderlich. Trotzdem werden ansehnliche Baulichkeiten entstehen.“ Hellsichtig werden hier bereits die charakteristischen Züge der neuen Fabrik benannt: ein Gespür des Unternehmensgründers Carl Benscheidt für Marketing, die Überzeugung, dass weniger Gebäude mehr ist – wenn man es vom richtigen Architekten bauen lässt. Benscheidt beauftragte seinerzeit den jungen Walter Gropius, der mit dem Fagus-Werk einen Markstein der modernen Architektur errichtete. Und schließlich die kluge Konzentration auf Klasse statt Masse.
Das Konzept seines späten Lebenswerks stand Carl Benscheidt von Anfang an klar vor Augen, als er mit vierundfünfzig Jahren noch einmal „von vorne“ anfing. Jahrzehntelange Berufserfahrung in der Leistenbranche spielte dabei ebenso eine Rolle wie sein persönliche Prägung durch die Lebensreformbewegung im deutschen Kaiserreich. „Da die Fehler der heutigen Fußbekleidung fast durchweg in den fehlerhaften Leisten ihren Ursprung haben, bieten zunächst nur rationelle Leisten eine Sicherheit für gutes Schuhwerk“, hatte der junge Benscheidt 1883 geschrieben, als er knapp 25-jährig eine Leistenwerkstatt für naturgemäße Fußbekleidung in Hannover eröffnete. Dreißig Jahre später besaß diese Beobachtung für ihn nach wie vor Gültigkeit, und er machte sie zum zentralen Firmenphilosophem seiner neuen Fabrik.
Die Produktion lief vielversprechend an. Nur vorübergehend unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg, setzte Fagus seinen eingeschlagenen Kurs auch in der neuen Republik fort. Die Bedingungen waren gleichwohl weniger günstig. Die Lebensreform als soziale Bewegung hatte abgedankt. Gesundheitliche Aspekte bei Mode und Schuhen hatten den Nimbus des Fortschrittlichen eingebüßt und waren jetzt, wenn überhaupt, vor allem bei Militär- und Arbeitsschuhen von Interesse.
Inzwischen mitgeleitet durch Juniorchef Karl Benscheidt, reagierte Fagus auf die veränderte Situation, indem man gezielt auf technische Innovation und die Zusammenarbeit mit Medizinern und Orthopäden setzte. Briefe belegen einen Kontakt zu dem Berliner Anatomen Hans Virchow. Durch ein neuartiges Verfahren präparierte er Füße von Verstorbenen zunächst mit Muskeln und Sehnen, um diese so naturnah wie möglich zu studieren.
Über knapp zwei Jahrzehnte (1921 bis 1938) sponserten die Benscheidts auch den Berliner Facharzt für Chirurgie, Dr. med. August Weinert, einen nicht weniger eigensinnigen Forscher, der sich dem Studium „aufgerichteter Füße“ verschrieben hatte. Biomechanik sagt man zu diesem Forschungsgebiet heute. Mit Weinerts Erkenntnissen hoffte man, schrittweise dem „idealen Leisten“ nahe zu kommen, der – nach dem lebendigen Fuß konstruiert – einen mühelosen, dynamischen Gang garantieren würde. Wurde dieser Leisten am Ende auch nie im Vollbild umgesetzt, so flossen doch Teilergebnisse von Weinerts Forschungen immer wieder in die Gestaltung der Fagus-Produkte ein.
Zumindest designhistorisch interessant ist die „Angulus Varus Gesellschaft“, ein Gemeinschaftsprojekt der Benscheidts und Dr. Weinerts. Sie sollte modisch ansprechende Reformschuhe (lat. angulus varus für „gerader Winkel“) an den Mann, die Frau und ihre Kinder bringen. Dafür gestaltete Bauhaus-Designer Johannes Mohlzahn 1927/1928 im Rahmen einer Reklamekampagne ein Plakat, Broschüren und Schuhkartons, für die der neusachliche Fotograf Albert Renger-Patzsch die Fotos gemacht hatte. Ein Lehr- und Aufklärungsfilm mit dem Titel „Die Bedeutung richtiger Fußbekleidung für die Volksgesundheit und die Volkswirtschaft“ ist nicht erhalten, jedoch eine Folge von Einzelaufnahmen mit zwei fabelhaft modernen Bubikopf-Damen, die in einem eleganten Schuhsalon Anti-Knickfuß-Spangenschuhe probieren. Wegen Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Beteiligten wurde das Projekt fallen gelassen. Trotz des Fiaskos festigte Fagus in diesen Jahren seinen Ruf, zwar nicht zu den billigsten Herstellern zu gehören, dafür in Fragen der Passform unter den Leistenfabriken die erste Wahl zu sein.
Den ersten geschäftlichen Großerfolg nach dem Ersten Weltkrieg brachte auf der deutschen Schuh- und Ledermesse in Berlin 1931 ein Besuch von zwei Herren des Berliner Polizeipräsidiums. Carl Benscheidt erinnerte sich: „‚Was können wir tun?‘, fragten die Herren. ‚Wir stellen die größten und stärksten Männer ein, die wir kriegen können. Am liebsten nehmen wir Riesen aus Schleswig-Holstein von Schuhgröße 44 an aufwärts. Wir achten auf gesunde Füße, aber wenn die Männer einige Jahre auf dem Berliner Pflaster gestanden haben, werden sie pflastermüde und können nicht mehr stehen. Wir haben gar nicht Büros genug, um alle Fußleidenden darin unterzubringen.‘ “
Fagus empfahl den Herren daraufhin, einen Versuch mit Stiefeln zu unternehmen, die auf Fagus-Leisten gefertigt waren. Nach einem überraschend positiven Ergebnis folgte ein Großversuch mit 10.000 Paar dieser Stiefel. Als wiederum volle Zufriedenheit herrschte, folgten Aufträge aus Württemberg, Sachsen, Baden, Bayern, bis schließlich alle Polizeistiefel nur noch über diese Leisten gefertigt werden durften. Als sich der reputierliche Auftrag herumsprach, trat 1933 auch die polnische Armee an Fagus heran und orderte einen Militärleisten. „Infolge des Erfolges in Polen“, so Karl Benscheidt, „führte unser tüchtiger Auslandsvertreter Franz Kopp einen wahren Siegeszug mit der Einführung von Armeeleisten in vielen europäischen Ländern. Sogar ein asiatisches Land bestellte daraufhin Militärleisten beim Fagus Werk.“ Professor Bradley von der British Boot Shoe and Allied Trades Research Association in London antwortete mit begeistertem Lob, nachdem Benscheidt den polnischen Armeeleisten zur Begutachtung eingeschickt hatte. Rückblickend liegt eine eigene Tragik in der Tatsache, dass sich im folgenden Weltkrieg Armeen in Stiefeln gegenüberstanden, die alle einmal mit so viel Einsatz für den Erhalt der Gesundheit geformt worden waren.
Unter den Nationalsozialisten wuchs das in der Weimarer Zeit versandete Interesse an gesunden Schuhen wieder, deren positive Wirkung auf die „Volksgesundheit“ ausdrücklich begrüßt wurde. Produktionsbetriebe, die derartige Konzepte verfolgten, erhielten vielfältige Unterstützung. Ausbildungsstätten, etwa die deutsche Schuhmacherfachschule Siebenlehn in Sachsen, begannen sich verstärkt mit diesen Themen zu befassen. „Die Anfertigung naturgemäßer und orthopädischer Fußbekleidung“, so ein Buchtitel ihres Direktors Heinrich Meier, gab die Linie vor. Auch Fagus kam im Zuge dieser Entwicklungen ohne weitere Anstrengung in den Genuss umfänglichen Wohlwollens. Als 1938 die behördliche „Forschungsstelle Leistenbau“ ins Leben gerufen wurde, vertrat Karl Benscheidt neben Orthopäden, Medizinern und Vertretern der Schuhindustrie die Leistenindustrie.
Modellhistorisch hat die „Forschungsstelle“ einige interessante Konzeptschuhe entwickelt, neben verschiedenen Fußtrainingsschuhen auch den so genannten Boehmer-Schuh mit raffiniert flexibler Sohle in „Fußspurform“, einen Wegbereiter des späteren Freizeitschuhwerks. Viele Leisten hierfür wurden im Fagus-Werk gefertigt.
Nach dem Krieg wurde 1948 auf Initiative der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft auch die „Forschungsstelle Leistenbau“ wiederbelebt. Als Vertreter der Leistenindustrie war Karl Benscheidt erneut mit von der Partie. Sie ist als ein letzter Versuch zu sehen, im Zusammenschluss unabhängiger Wissenschaftler empfohlene Richtmaße zum Erhalt der Fußgesundheit unverbindlich an die Schuhindustrie weiterzureichen, die „freie Marktwirtschaft“ durch eine freiwillige Selbstkontrolle zu zähmen. Vor diesem Hintergrund wurde 1954 das „Brandsohlenschema G“ entwickelt, ein Konstruktionsmaß, das eine „gute Form“ von Schuhen gewährleistete, indem es Forderungen der Anatomie mit der Mode versöhnte.
Als ab Mitte der 1950er-Jahre spitze Stöckelschuhe in einer ersten großen Nachkriegsmodewelle aus Italien in Deutschland anlandeten, bedeutete dies für Fagus erstmals eine herbe Umorientierung. Die Leistenmodelleure machten ihre ganze Überzeugungskraft geltend, um ihre Kunden aus der deutschen Schuhindustrie von einer allzu freundlichen Übernahme des neuen Looks abzubringen und ihnen im Sinne einer Reststöckelfähigkeit hiesiger Trägerinnen minimale Zugeständnisse bei der Leistengestaltung abzuringen. Mit den flachen Ballerinen und poppigen Karreeformen der 60er-Jahre – die nächste Mode kam so sicher wie das Amen in der Kirche – und den gerundeten Loafer-Typen der 70er-Jahre hatten Fagus-Modelleure keine größeren Gewissensnöte. Nachdem die Achtziger vorübergehend wieder eine Vorliebe für spitze Formen entwickelt hatten, brachten die Neunzigerjahre die große Überraschung des Jahrhunderts: ein modisches Comeback asymmetrischer Leisten im Stil der Lebensreform, flankiert von einer breiten Palette zehenfreundlicher Freizeitschuhe.
Damit könnte die Geschichte des Ringens um moderne Hygienestandards bei Schuhen ihr Happyend gefunden haben. Doch das Ende der Geschichte ist eine Illusion. Nicht nur ist seit der Jahrtausendwende eine anteilige Rückkehr der Schuhmode zu spitzigen Zickenpumps im Stil einer Kunstkörperästhetik à la Manolo Blahnik nicht zu leugnen. Alle Diskussionen um spitze Formen versus Zehenfreiheit könnten sich zudem als historische Petitessen herausstellen angesichts des heraufziehenden neuen Krieges, genannt Globalisierung. Sollte die Deindustrialisierung Deutschlands fortschreiten, wäre dies verbunden mit dem Wegzug, wenn nicht dem Exitus der deutschen Schuhindustrie. Vor allem hier wurde der Passform als kulturellem Erbe immer besonderer Stellenwert, Fagus besonderes Vertrauen eingeräumt. Ob der Unternehmens-Dino auch in Zukunft in seinem „lebenden Denkmal“, wie die Gropius-Architektur gern genannt wird, arbeiten kann oder diese zum echten Denkmal wird – die Antwort darauf weiß nur der Wind.
NIKE BREYER, 49, lebt als freie Autorin in Marburg. Als Modespezialistin mit den Schwerpunkten Lebensreform und Fußbekleidung hat sie an der Dokumentation der Fagus-Firmengeschichte in Alfeld beratend mitgewirkt