■ Berlin-Wahlen: Zwischen Debakel und Aufbruch in eine rot-grüne Regierung ist für die Berliner SPD alles drin: Dialektik der Langeweile
Glaubt man den Umfragen, dann kommt es morgen für die Berliner SPD knüppeldick. Ihr werden desaströse 28 Prozent zugemessen, der CDU dagegen satte 41 Prozent. Die interessanteste Zahl freilich konnte man zum Wochenanfang lesen: Wenige Tage vor dem Urnengang sind sich erst 45 Prozent der Berliner sicher, welcher Partei sie ihre Stimme geben — ein extrem geringer Wert. Alle Parteien rechnen mit einer ausgesprochen geringen Wahlbeteiligung – was erfahrungsgemäß eher die kleinen Parteien mit ihrer engagierten Klientel begünstigt. Kein Wunder, daß man im Wahlkampfstab der Christdemokraten dennoch nervös ist.
Alles ist möglich, wissen die Wahlkampfmanager angesichts dieser beunruhigenden Zahlen. Es ist die Frucht eines Wahlkampfes, dessen Langeweile in der Bundesrepublik bisher unerreicht ist. Und dennoch ist die Langeweile wahlentscheidend, weil sie mit dem Wunsch einer verunsicherten Wählerschaft korrespondiert, bloß nicht mit Veränderungen konfrontiert zu werden.
In den letzten Monaten ist es der Herausforderin für das Amt des Regierenden Bürgermeisters, der Sozialsenatorin Ingrid Stahmer, nicht gelungen, auch nur ein einziges Thema sozialdemokratisch zu „besetzen“. Ihr Slogan „Für eine bessere Politik“ brach alle Rekorde der nach unten offenen Banalitätsskala. Dicht gefolgt von der CDU, die Berlin bärig „brummen“ läßt. So inhaltsleer der Wahlkampf, so vielfältig und drückend sind die Probleme der Vereinigung und des gesellschaftlichen Umbruchs. Quer durch die Stadt ist immer noch die innere Spaltung spürbar, und das vom Bonner Subventionstropf abgenabelte Berlin kämpft mit einer für westdeutsche Kommunen unvorstellbaren Finanznot. Statt Aufschwung hat die Stadt seit dem Mauerfall den Anstieg auf 250.000 Arbeitslose erlebt. „100.000 Arbeitsplätze“ verspricht die SPD auf ihren Plakaten; die CDU kontert mit der Versicherung, gar deren 200.000 schaffen zu wollen. Frohe Botschaften, an die keiner glaubt. Schließlich sitzen beide Parteien nicht in die Opposition, sondern seit fünf Jahren in der Großen Koalition an einem Tisch.
Der Wahlkampf war nur die nahtlose Fortsetzung eines streitarmen Regierungsbündnisses. Die schlechten Umfragewerte für die SPD sind die Quittung dafür, daß in der Großen Koalition die Kontur der Sozialdemokratie verwischte. Das Problem der Berliner SPD ist deswegen nicht der Streit der Bundespartei um Scharping und Diäten, sondern es ist strukturell. Den Takt hat die CDU vorgegeben. Der ebenso farblose wie aktenkundige Regierende Bürgermeister Diepgen hat es vermocht, die Senatoren zu Sachbearbeitern in einer riesigen Verwaltungsmaschinerie zu degradieren. Die Lähmung der politischen Kultur Berlins, die der verstorbene SPD-Politiker Harry Ristock als Ergebnis einer Großen Koalition befürchtete, ist auf eine unerwartet banale Weise eingetroffen.
Die Quittung für die Sozialdemokraten: Jeder ihrer Erfolge wird im Wahlkampf ebenso von der CDU reklamiert. Eberhard Diepgen mache sozialdemokratische Politik, merken verbitterte Genossen zuweilen an. Diepgen läßt nichts anbrennen: Egal, ob die SPD im Wahlkampf die fehlenden Plätze in Kinderttagesstätten thematisieren will oder die Sicherung der Ostberliner Sozialwohnungen fordert – Diepgen ist mit im Boot. Dem im Umgang mit Menschen ungelenken Eberhard Diepgen ist darüber Statur und ein wenig Popularität zugewachsen. Nahezu vergessen sind darüber das Debakel um die Olympia-Bewerbung, oder ein Innensenator, dem erst kürzlich bescheinigt wurde, er habe bei dem Attentat auf vier kurdische Politiker seine Amtspflichten „nachhaltig verletzt“.
Diepgen hat es mit einer Herausforderin Ingrid Stahmer zu tun, deren öffentlich präsentierte Unentschiedenheit ein Spiegelbild der zerrissenen SPD ist. Nahezu gleichstark ist das Lager jener Sozialdemokraten, die sich an die bequeme Große Koalition gewöhnt haben, und denen, die eine rot- grüne Neuauflage anstreben. Stahmer hat jede Aussage darüber vermieden, wohin sie will, und hat damit den Eindruck der Kraftlosigkeit noch verstärkt. Die selbstgefällige Bräsigkeit, mit der SPD- Apparatschiks betonen, ohne ihre Partei werde es keine Regierungsbildung geben, ist bestens geeignet, die Berliner für die SPD einzunehmen.
Die fehlende Polarisierung im Wahlkampf, die Verdrängung des Politischen zugunsten eines bloßen Konfliktmanagements, mit der die große Koalition die Stadt eingelullt hat, erklärt einiges an diesem spannungsarmen Wahlkampf. Hinreichend ist es nicht. Die andere Seite des Wahlkampfes sind die Berliner. Die sind es längst leid geworden, Staffage von historischen Ereignissen zu sein, deren Schattenseiten sie hinterher zu spüren bekamen. Verzagt und oft genug kleinmütig haben sie sich zurückgezogen in ihre 23 Bezirke, die mit der Größe von westdeutschen Großstädten schon immer ihre eigene Realität hatten.
Aufbruch ist in Berlin nicht angesagt – zum Leidwesen der Grünen, die als einzige Partei fast brutal davon sprechen, daß den Berlinern angesichts leerer Kassen die härtesten Zeiten noch bevorstehen. In der Stadt geht es um Ängste und Besorgnisse. Knapp die Hälfte der Westberliner erklären, ihnen ginge es schlechter als vor fünf Jahren. Die Ostberliner kämpfen dagegen immer noch mit den neuen Lebensverhältnissen. Die Glitzerwelt aus Bürotempeln und Konsumpalästen, die in der Stadtmitte entstehen, ist ihnen das Symbol einer diffusen Bedrohung. In einer Zeit, in der nichts mehr unverrückbar erscheint, sehnt man sich nach Halt und Ruhe. Die Wahlkämpfer haben diesen Kammerton aufgenommen. Geborgenheit soll vermittelt werden, und Ingrid Stahmer als oberste Sozialarbeiterin ist für diese Rolle nicht ungegeignet. Ihr Pech ist freilich, daß der für behutsame Veränderung stehende Eberhard Diepgen darin ebenso gut ist.
Angesichts dieser gezielten Langeweile fällt den Menschen die Entscheidung schwer. Keiner hat es bislang vermocht, die große Zahl der Unentschlossenen auf seine Seite zu ziehen. Wer letztlich profitiert, zeigt sich morgen. Eberhard Diepgen hat gelernt, die Unentschlossenen zu fürchten. Auch Anfang 1989 lag er uneinholbar vor der SPD – doch am Wahlabend hatte die CDU zehn Prozent verloren, und Rot-Grün war aus der Taufe gehoben. Für die SPD ist deswegen alles möglich: Katzenjammer bei 25 Prozent oder 33 Prozent inklusive Option auf einen rot-grünen Wechsel. Gerd Nowakowski
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