Diabetes als Volkskrankheit: „Heilungschancen gibt es derzeit nicht“
Der Diabetologe Peter Sawicki spricht über Ursachen und Behandlungsmethoden bei Diabetes. Medizinische Durchbrüche erwartet er nicht.
taz: Herr Sawicki, die Zahlen des Robert-Koch-Instituts alarmieren. Warum wurde Diabetes so lange als Volkskrankheit unterschätzt?
Peter Sawicki: Diabetes wird nicht unterschätzt. Die Qualität der Behandlung dieser Erkrankung in Deutschland wird nur nicht systematisch erhoben.
Aber die Daten sind doch neu?
Die Daten sind nicht überraschend, wir kennen sie gut aus anderen Ländern. Sie bringen wenig neue Erkenntnisse. Wichtiger wäre zu erfassen, wie viele Menschen mit Diabetes nicht ausreichend behandelt sind.
Woran liegt es, dass so viele Diabetes-Fälle unerkannt bleiben?
Mäßig erhöhte Blutzuckerwerte, wie sie ja am Anfang der Erkrankung regelmäßig vorliegen, verursachen keine Beschwerden. Somit können die Betroffenen die Erkrankung nicht so einfach erkennen. Erst später führen sehr hohe Blutzuckerwerte zu starker Urinproduktion, Durst und Abgeschlagenheit.
55, Professor für Innere Medizin und Diabetologe, ist Dozent am Institut für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie in Köln. Von 2004 bis 2010 leitete er das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Seine aktuelle Studie zu künftigen Kosten für das Gesundheitssystem durch zunehmende Diabetes in Deutschland erscheint im Herbst.
Was sind die Ursachen für die Zunahme von Diabetes bei Erwachsenen?
Die Diabeteserkrankungen nehmen weltweit zu. Verantwortlich dafür werden vor allem die Zunahme stark übergewichtiger Menschen und abnehmende körperliche Belastung zum Beispiel bei der Berufstätigkeit gemacht. In den Industrieländern ist die stetig zunehmende Lebenserwartung auch ein Faktor, da der „Altersdiabetes“ oder Typ 2 Diabetes vor allem eine Erkrankung des fortgeschrittenen Lebensalters ist. Es spielen aber sicher auch genetische Faktoren eine wichtige Rolle.
Welche Personengruppen sind besonders gefährdet?
Gefährdet sich vor allem Menschen, in deren Familie der Diabetes aufgetreten ist, stark übergewichtige Menschen. Ess- und Trinkgewohnheiten spielen kaum eine Rolle, wenn man nicht mehr isst, als man an Kalorien pro Tag benötigt. Ganz wichtig: weder von Zucker noch von Schokolade bekommt man Diabetes, aber natürlich können diese Nahrungsmittel zu einer zu hohen Kalorienaufnahme beitragen, zu Übergewicht führen und dann zu Diabetes.
Wäre es sinnvoll, über Gentests frühzeitig festzustellen, wer eine Disposition für Diabetes hat?
Gentests sind unsicher und überflüssig; sie lassen keine sichere Aussage zu, wer einen Diabetes mellitus bekommen wird und wer nicht. Wenn aber in der Familie bei nahen Verwandten Diabetes aufgetreten sich, so ist dies sicher ein wichtiger weiterer Grund, auf ein normales Gewicht zu achten.
Welche Folgeerkrankungen drohen?
Langfristig erhöhte Blutzuckerwerte können Schädigungen der kleinen Gefäße verursachen, die dann zu Erkrankungen des Augenhintergrundes, der Nieren und der Nerven führen. Betroffen sind hiervon vor allem Menschen, die den Diabetes in einem relativ jungen Alter bekommen, also grob circa vor dem 60. Lebensjahr. Das Risiko, infolge des Diabetes zu erblinden oder an die Dialyse zu kommen, nimmt mit dem Alter bei Diagnosestellung ab.
Darüber hinaus besteht bei sehr vielen zuckerkranken Menschen ein Bluthochdruck; wenn dieser nicht ausreichend behandelt wird, drohen Herzinfarkte und Schlaganfälle. Und ganz wichtig: Bei allen Menschen mit Diabetes sind die Füße besonders gefährdet. Unbehandelte Verletzungen zum Beispiel durch zu kleine Schuhe, was man aufgrund der Nervenschädigung - und der damit verbundenen Empfindungsstörung - häufig nicht wahrnimmt, können übersehen werden. Nachfolgende schwerwiegende Entzündungen der Füße bringen ein Amputationsrisiko mit sich.
Ist Diabetes vererblich?
Beide Diabetesformen sind erblich. Somit tragen die Kinder von Diabetikern ein erhöhtes Erkrankungsrisiko.
Gibt es Heilungschancen?
Heilungschancen gibt es derzeit nicht, und trotz aller Durchbruch-Ankündigungen wie „bald heilbar“ ist aus meiner Sicht damit in den nächsten Jahrzehnten auch nicht zu rechnen. Die besten Therapiemöglichkeiten für Typ 2 Diabetes kennt man seit über 150 Jahren: Gewichtsabnahme, verbunden mit körperlicher Bewegung. Die vielen neuen blutzuckersenkenden Pillen haben – wenn überhaupt – nur einen relativ geringen Nutzen. Und für alle Menschen mit Typ 1 Diabetes und einige mit Typ 2 Diabetes steht dankenswerterweise in Deutschland Insulin zur Verfügung.
Welche ökonomischen Folgen ergeben sich daraus für das Gesundheitssystem in Deutschland?
Es gibt hierzu bislang nur bereits abgeschlossene, aktuelle und relativ gute Berechnungen aus England, wo die laufenden Kosten für das gesamte Gesundheitswesen besser analysiert werden, da die Datengrundlage solider ist als bei uns. Ich denke aber, dass man diese Berechnungen mit einigen Einschränkungen auch auf Deutschland übertragen kann. Demnach werden sich die Gesamtkosten für das Gesundheitswesen und für die Gesellschaft – also indirekte und direkte Kosten – für Typ 1 und Typ 2 Diabetes mellitus in den nächsten 25 Jahren in etwa verdoppeln.
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