Deutschtürken in Istanbul: Zurück zu den Wurzeln
Deutsche mit türkischen Wurzeln suchen ihr privates Glück oder beruflichen Erfolg in Istanbul. Einen Stammtisch haben sie auch - im Ausgehbezirk Beyoglu.
ISTANBUL taz | Der Mann sieht aus wie das Klischee eines Deutschen, groß und blond. Nur sein Name irritiert. Kaya Gönencer ist Wirtschaftsanwalt und lebt seit einigen Monaten in Istanbul. Er ist zum ersten Mal bei einem Treffen dabei, das sich "Rückkehrer-Stammtisch" nennt. Ist Kaya Gönencer also ein Rückkehrer? "Das kann man so nicht sagen", meint er und lacht freundlich. "Ich habe ja vorher nie in der Türkei gelebt. Mein Vater kommt aus der Türkei, aber meine Mutter ist Deutsche."
Kaya Gönencer hat lange Jahre in Berlin gelebt und gearbeitet. Jetzt ist er nach Istanbul gekommen, weil er die Herausforderung sucht. Und weil für ihn als Wirtschaftsanwalt, mit seinen sprachlichen, fachlichen und kulturellen Kompetenzen, Istanbul ein idealer Standort ist. "Ich bin Mitarbeiter in einer renommierten Kanzlei und betreue hauptsächlich deutsche Firmen, die sich in der Türkei engagieren oder noch engagieren wollen.". Der Bedarf für Leute wie Gönencer ist groß. Rund 4.000 deutsche Firmen sind mittlerweile in der Türkei aktiv, von den ganz Großen bis hin zu mittelständischen Unternehmen und kleinen Start-ups, die hier in den letzten Jahren ihr Glück versucht haben.
Gönencer passt gut in die Runde, die sich an einem Februarabend im Istanbuler Ausgehbezirk Beyoglu trifft. Das Wort Stammtisch weckt dabei falsche Assoziationen, das Treffen hat nichts mit deutscher Bierseligkeit zu tun. Mit dem Aufzug fährt man in den sechsten Stock eines Neubaus am repräsentativen Mesrutiyet-Platz, wo ein Stockwerk höher eine Roof-Bar mit grandiosem Blick aufs Goldene Horn auf Gäste wartet. Rund 50 Leute tummeln sich in zwangloser Geselligkeit, sie quatschen, trinken Tee, Bier, Wein oder Cocktails und machen Kontakte untereinander. Mehr Stehparty als Stammtisch.
Ins Leben gerufen haben diese Treffen drei deutschtürkische Frauen vor knapp vier Jahren. Eine von ihnen ist Cigdem Akkaya, die sich bis heute um die Organisation der Abende kümmert. Akkaya ist vor einigen Jahren aus Deutschland zurückgekommen, weil sie Lust hatte, nach vielen anstrengenden Jahren in Essen wieder in Istanbul zu leben. Sie war stellvertretende Leiterin des Essener Zentrums für Türkeistudien, hat sich also jahrelang wissenschaftlich mit der Situation der Türken in Deutschland befasst. In Istanbul hat sie dann eine Consulting-Agentur gegründet, die mit Medienarbeit, Veranstaltungsorganisation und Betreuung von Reisegruppen ihr Geld verdient. Auf die Idee mit dem Stammtisch kam Akkaya, als bei der Organisation einer Veranstaltung im Dedeman-Hotel zunächst alles schieflief. Das türkische Management im Hotel war nicht darauf vorbereitet, eine Veranstaltung durchzuführen, die den Erwartungen deutscher Geschäftsleute entsprach. Das klappte erst, als die PR-Managerin Bilur Öncü, auch eine Deutschtürkin, dazukam. "Wir haben uns sofort verstanden. Unsere Erfahrungen, der ganze kommunikative und soziale Code, es war alles dasselbe."
"Wir haben uns danach überlegt, ein Treffen zu machen, um mehr Deutschtürken zusammenzubringen. Wir sind nun mal eine Gruppe für sich, ein gutes Netzwerk untereinander ist deshalb wichtig. Mit gleichgesinnten Leuten kann man auch besser arbeiten", sagt Cigdem Akkaya. Zum ersten Treffen kamen zwölf Leute. Seitdem gibt es jeden Monat einmal eine Zusammenkunft. Das Interesse ist groß, es kommen immer mehr "Rückkehrer" zum Stammtisch, oft sind es fünfzig Leute und mehr.
"In der Regel", erzählt Cigdem Akkaya, laden wir jedes Mal einen besonderen Gast ein, der einen kleinen Vortrag hält, über den wir anschließend diskutieren. Da kommt dann die neue deutsche Generalkonsulin in Istanbul vorbei, oder eine Autorin stellt ein Buch über deutsche Exilwissenschaftler vor, die auf der Flucht vor den Nazis in die Türkei geflohen waren. "Es gibt aber auch Vorträge, die speziell uns interessierende Fragen thematisieren. Da geht es dann meist darum, wie man hier am besten klarkommt."
Erfahrungsaustausch ist einer der Hauptgründe für die Treffen. Canan Arslan hat viel zu erzählen. Sie ist eine Rückkehrerin im klassischen Sinne. Zusammen mit ihren Eltern ging sie in den 1980er-Jahren in die Türkei zurück, als die damalige Regierung Kohl das "Gastarbeiterproblem" noch damit lösen wollte, dass sie Prämien für Rückkehrer auslobte. Doch obwohl Arslan nun schon seit 25 Jahren wieder in der Türkei lebt, ist sie für ihre türkische Umgebung doch "Deutschländerin" geblieben. "Ich bin eben bis heute durch meine Kindheit in Deutschland geprägt", erzählt sie. Sie arbeitet in einer deutschen Firma in Istanbul und hat den Kontakt nach Deutschland nie abreißen lassen. Zum Stammtisch kommt sie regelmäßig, weil sie sich hier mit Leuten austauschen kann, "aber vor allem, weil es Spaß macht und man neue Leute kennen lernt".
Anders als Canan Arslan ist der größte Teil der Gäste an diesem Abend erst innerhalb der letzten fünf Jahre nach Istanbul gekommen. So wie Ertan Dal, ein Selfmademan aus Zürich. Schon in jungen Jahren war er Ende der 1990er am globalen Hype um IT-Firmen mit einer eigenen Klitsche in Zürich beteiligt. "Es lief eigentlich bis zuletzt ganz gut", erzählt er, ich hab mich auch in Zürich wohlgefühlt. Ertan ist im Schwitzerdütschen genauso zu Hause wie im Hochdeutschen, Integrationsprobleme hatte er nicht. "Trotzdem hatte ich irgendwann das Gefühl, ich müsste einmal zurück zu meinen Wurzeln." Er brach seine Zelte in Zürich ab, ging nach Istanbul und landete in der Immobilienbranche. "Läuft gut in Istanbul", meint er, "ich kann nicht klagen."
Geradezu euphorisch klingt Aslihan Kiratli. Die junge Frau ist erst vor kurzem aus Köln nach Istanbul gekommen. Als Kind war sie mit ihren Eltern an den Rhein gezogen. "Aber ich hatte immer Sehnsucht nach Istanbul", sagt Kiratli. Sie hat in Köln Abitur gemacht und anschließend studiert, doch die Jobsuche für Menschen, die "Kiratli" heißen, ist eben in Deutschland nach wie vor sehr viel schwieriger als für "Müllers" oder "Heinzes". Doch sie ist nicht nur nach Istanbul gekommen, weil sie Schwierigkeiten hatte, in Köln einen Job zu finden. "Ich habe mir meinen Traum erfüllt. Ich wollte nicht wie die Generation meiner Eltern damit warten, bis ich in Rente gehe."
Auf die Frage, ob es nicht gerade für junge emanzipierte Frauen wie sie in Istanbul viel schwieriger ist als in Köln, zuckt sie die Schultern. "Man darf sich nicht einschränken lassen. Man muss sich seine Rechte hier genauso nehmen." Es sind zumeist Leute wie Kiratli, Gönencer und Dal, die sich in den letzten Jahren aus Deutschland, der Schweiz oder Österreich aufgemacht haben, um in Istanbul ein neues Leben zu suchen. Sie sind gut ausgebildet und in beiden Sprachen und Kulturen zu Hause. Wenn man die deutsche Debatte über Integration verfolgt und die dort immer wieder auftauchenden Schlagworte ernst nimmt, müssten diese Kinder oder Enkel von Einwanderern eigentlich Musterexemplare integrierter Deutschtürken sein. Dennoch hatten sie keine Lust mehr auf Deutschland.
Warum nur? Eine Antwort über den Einzelfall hinaus liefert eine Studie, die im November letzten Jahres in Berlin veröffentlicht wurde. Die Meinungsforschungsinstitute Info GmbH aus Berlin und Lijeberg Research International aus Antalya haben eine internationale Vergleichsstudie über deutsch-türkische Wertewelten durchgeführt und dazu jeweils Deutsche, Deutschtürken und Türken in der Türkei befragt. Von den befragten Deutschtürken waren 30 Prozent in Deutschland geboren, ein weiteres Drittel lebte bereits seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Trotzdem betrachteten nur 21 Prozent von ihnen Deutschland als ihre Heimat.
Rasante Entwicklung
"Ich hatte die Integrationsdebatten, den ständigen Rechtfertigungsdruck und die Ignoranz der Leute einfach satt", sagt Cigdem Akkaya stellvertretend für viele, die sich dafür entschieden haben, ihren Lebensmittelpunkt lieber nach Istanbul zu verlegen. Möglich wurde das auch durch die rasante Entwicklung, die die Metropole am Bosporus im letzten Jahrzehnt absolviert hat. Hohe Wachstumsraten und eine immer stärkere Vernetzung der Türkei mit der globalen Wirtschaft haben erst die Nachfrage für Leute geschaffen, die gut qualifiziert aus Deutschland nach Istanbul kommen.
Durch die vielen deutschen Firmen in der Türkei, von denen die meisten in Istanbul ihren Sitz haben, ist ein Arbeitsmarkt entstanden, der für Deutschtürken mit entsprechender Qualifikation wie geschaffen ist. Sie sind als Berater und Dienstleister, die sich in beiden Welten gut bewegen können, gefragt.
Aber vermissen sie Deutschland nicht? "Natürlich", sagt Akkaya. "Aber wir haben gelernt, uns aus beiden Kulturen das Beste herauszusuchen." Aus den politischen Auseinandersetzungen in der Türkei halten die meisten sich raus. "Sie sind jung und interessieren sich nicht sehr für Politik", hat Cigdem Akkaya beobachtet. Außerdem haben sich die meisten in einer Umgebung eingerichtet, die ihre persönliche Freiheit nicht einschränkt. Frauen mit Kopftüchern sind unter den Gästen nicht zu sehen.
Aslihan Kiratli demonstriert an jenem Abend, was sie mit Freiheit in Istanbul verbindet. Während die Deutschen im Raum noch angestrengt diskutieren, schnappt sie sich ein Mikrofon und legt aus dem Stand eine bühnenreife Gesangsnummer hin. Im Wechsel zwischen englischen und türkischen Songs - deutsche Folklore ist tabu für sie - bringt sie den Saal innerhalb weniger Minuten dazu, die Tische beiseite zu schieben und zu tanzen. "Das Leben ist einfach leichter hier", sagt sie zwischen zwei Liedern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Pro und Contra
US-Präsident Biden hat seinen Sohn begnadigt – richtig so?
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld