Deutschlands Umgang mit Kindern und Jugendlichen : Für Aladin El-Mafaalani sind Kinder eine abgehängte Minderheit
Deutschlands Politik und Gesellschaft ignorieren Kinder und Jugendlichen weitgehend. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani sieht jetzt besonders eine Generation in der Pflicht, dies zu ändern. Ein Gespräch.
taz FUTURZWEI: Aladin El-Mafaalani, Sie fordern Minderheitenschutz für Kinder, weil Kinder in dieser Gesellschaft total am Arsch sind, verstehen wir Sie da richtig?
Aladin El-Mafaalani: So sagen wir das nicht. Wir beschreiben aber, dass Kinder in einer modernen Gesellschaft strukturelle Außenseiter sind. Das ist schon lange so, systemtheoretisch würde man sagen, die gesellschaftlichen Systeme haben sich etabliert, und Kinder kommen darin nicht vor. Sie sind Randerscheinungen, Kinder sind in Familien oder werden in Sonderumwelten des Erziehungs- und Bildungssystems ausgelagert. Wir wollen den Fokus der alternden Gesellschaft auf Kinder richten.
Kinder werden von Politik und Gesellschaft schon lange ignoriert, sagen Sie. Was ist dann das Neue?
Das Neue ist, dass Kinder eine immer kleiner werdende Gruppe sind und mittlerweile eine Minderheit. Der Außenseiterstatus, in der Gesellschaft keinen Platz zu haben, außer in der Familie, und sonst immer nur zu stören, wird jetzt ergänzt und verstärkt durch die geringe Größe der Gruppe. Man könnte sagen: Nur weil es so eine kleine Gruppe ist, konnte man während der Pandemie so harte Maßnahmen durchziehen. Als die Boomer Kinder waren, waren sie doppelt so viele wie heute, es wäre schon technisch nicht möglich gewesen, einfach alle Schulen zu schließen und die Kinder zu Hause zu lassen. Wir können mit harten Fakten belegen, dass Kindheit immer schwieriger wird und das Interesse dafür sehr gering ist. Die Bildungsstudien zeigen, dass ein Negativrekord nach dem anderen aufgestellt wird. Zudem ist das Wohlergehen der Jugendlichen, sind ihre Gesundheitsbefunde, echt problematisch – und das alles, obwohl die Ausgaben steigen. Dann kommt hinzu, dass schon bald Rentnerinnen und Rentner eine Mehrheit bilden und sie die Wahlen entscheiden werden. Früher haben diejenigen entschieden, die den Laden am Laufen halten. Das sind also auch demokratietheoretisch bedenkliche Entwicklungen.
Das Interessante ist, dass Sie nicht von den deprivilegierten Kindern sprechen, sondern von allen, unabhängig vom Elternhaus. Alle werden diskriminiert?
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°32: Wozu Kinder?
Kinder und Jugendliche sind die politisch ignorierteste Randgruppe der Gesellschaft. Dabei muss diese Minigruppe demnächst die vielen Renten bezahlen und den ganzen Laden am Laufen halten. Was muss sich ändern?
Mit Aladin El-Mafaalani, Marlene Engelhorn, Arno Frank, Ruth Fuentes, Maja Göpel, Robert Habeck, Celine Keller, Wolf Lotter, Lily Mauch, Luisa Neubauer, Henrike von Scheliha, Stephan Wackwitz und Harald Welzer.
Das ist eine richtige Beschreibung. Armut ist weiterhin ein benachteiligender Faktor, aber Kindheit ist unabhängig davon grundsätzlich schwierig.
Dieses Problem ist doch mit dem klassischen Links-rechts-Denken nicht zu lösen?
Nein, mit links-rechts hat das meiner Meinung nach wirklich wenig zu tun.
Das ist kulturell herausfordernd, dass Sie Diskriminierung nicht über Klassen, sondern über Alterskohorten beschreiben.
Ja, das ist ein neues Phänomen. Und dann kommt noch hinzu: Wenn man das Selbstbild der Bevölkerung anschaut, würde eine überwältigende Mehrheit sagen, dass Kinder wichtig und toll sind.
Aladin El-Mafaalani ist Soziologe und seit 2024 Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der Technischen Universität Dortmund. El-Mafaalani ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. Bücher: „Das Integrationsparadox“ (2018), „Mythos Bildung“ (2020) und „Wozu Rassismus“ (2021). Sein neuestes Buch „Kinder - Minderheit ohne Schutz“, das er gemeinsam mit Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier verfasst hat, ist im Januar bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
Wie begründen Sie denn, dass nicht nur manche, sondern alle benachteiligt werden, auch die aus den Privatschulen?
Wir haben das im Buch exemplarisch am Geburtsjahrgang 2007 festgemacht, der dieses Jahr volljährig wird. An diesem Jahrgang kann man erkennen, dass alle gesellschaftlichen Krisen und Veränderungen in Kindheit und Jugend klassenunabhängig durchschlagen. Diese Generation hat sehr starke gemeinsame Erfahrungen gemacht, unabhängig von Ungleichheitsverhältnissen. Als sie in der Grundschule waren, war die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 bis 2016. Die haben sie viel stärker als die Erwachsenen erlebt, weil die Geflüchteten in den Turnhallen ihrer Schulen untergebracht wurden, weil die Kinder der Geflüchteten ihre MitschülerInnen wurden und sie von den Schicksalen viel mehr mitbekommen haben. Sie haben auch mitbekommen, dass Erwachsene im normalen Alltag keine Orientierung mehr haben und bisweilen die Fassung verlieren und dass seitdem eine große Polarisierung stattfindet.
Dann kommen 2018 immerhin Fridays for Future?
Ja, aber diese kurze Zeit erlebten sie nur als Beobachter, sie waren noch zu jung zum Streiken. Das war Anlass für ein bisschen Optimismus, der aber bereits 2020 durch die Pandemie erschüttert wird. Vollständiger Lockdown, nichts funktioniert. Die Institutionen, die vorher gekriselt haben, haben nun komplette Aussetzer. Der 2007er-Jahrgang ist in der frühen Teenie-Phase, also einer heiklen Entwicklungsstufe, und bekommt einen Fullstop verpasst. Dann hört die Pandemie auf und der Ukraine-Krieg beginnt. Wieder Geflüchtete, wieder volle Schulen, wieder polarisierte Diskurse, und dazu noch eine Energiekrise. Kinder und Jugendliche haben viel sensibler darauf reagiert, dass wir im Winter keine Heizung mehr haben könnten und so weiter und so fort. Hinzu kommt das Sondervermögen Bundeswehr bis hin zur Wiedereinführung der Wehrpflicht. Auch darauf haben junge Leute sehr empfindlich reagiert. Dann der Gaza-Krieg, den sie über TikTok viel direkter verfolgt haben als wir Erwachsenen.
Sie kennen nur Krise?
Im Prinzip kann man sagen: Sie wachsen in einer Gesellschaft auf, in der es ein Märchen ist, dass Deutschland für Funktionalität, Verlässlichkeit und Pünktlichkeit steht. Das haben sie nie erlebt. Übrigens auch wichtig: Für sie ist die AfD eine ganz normale Partei. Sie kennen keine Zeit davor. Auch nicht vor TikTok, es ist für sie das Gewöhnlichste überhaupt, dass sie sich dort informieren und von der AfD angesprochen werden. Erwachsene, Eltern und Lehrkräfte erleben sie regelmäßig als überforderte Menschen, die kaum Orientierung geben. Und das alles ist unabhängig davon feststellbar, ob die Kinder in Wohlstand oder in Armut aufwachsen, ob es Jungs oder Mädchen sind. Und dieser 2007er-Jahrgang wurde 2022 in der PISA-Studie untersucht: mit den schlechtesten Befunden im Hinblick auf die zentralen Kompetenzbereiche, die jemals gemessen wurden. Und beim Wahlverhalten sieht man, dass es sich um eine Entfremdung handelt. Sie wählen von extrem rechts bis sehr, sehr links vor allem die kleinen Parteien: Volt, die Tierschutzpartei, Die Partei kommen bei ihnen auf gute Ergebnisse.
Viele Ältere haben diese Jungen erst wahrgenommen, als sie bei der EU-Wahl verstärkt AfD wählten. Tenor: Hä, was läuft denn bei denen falsch?
Genau. Anstatt zu fragen: Hä, was haben wir eigentlich falsch gemacht? Oder was haben wir in den vergangenen Jahren übersehen? Erstmal ist es ein Trugschluss, dass es einen Rechtsruck gab. Klar, CDU und AfD sind auf Platz eins und zwei. Aber wenn man alle linken Parteien zusammenrechnet, ist es tendenziell schon links. Nur ist die Bandbreite riesig. Was wir Erwachsenen unter Sonstige packen, ist bei der jungen Generation 30 Prozent, also der größte Balken. Und im Übrigen: Was Ende Januar 2025 passiert ist, wird sich ebenso auf junge Menschen auswirken. Nachdem für sie die AfD faktisch Normalität ist, wurde diese Partei normativ normalisiert. Dass die Parteien, die Deutschland länger als jede andere regieren, also CDU/CSU und FDP, mit der AfD gemeinsame Sache machen, könnte einen großen Impact auf viele junge Menschen haben. Die weitere Spaltung der Gesellschaft wird noch eine große Herausforderung für jene, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, seien es Eltern oder Lehrkräfte.
Was schließen Sie daraus?
In einem Satz zusammengefasst: Für sie ist der Ausnahmezustand ein Normalzustand und deshalb haben sie einen ganz anderen Blick als wir Erwachsenen. Wir denken immer noch in »Krise«, denn wir haben früher die Erfahrung von so etwas wie Stabilität gemacht und damit vergleichen wir die Situation heute. Bei jungen Menschen sind alle Krisen viel stärker und unmittelbarer eingeschlagen mit bereits jetzt nachhaltig messbaren Folgen. Das ist aber alles in der öffentlichen Wahrnehmung nicht präsent.
Was kann man denn jetzt besser machen?
Es gibt zwei klare Strategien. Entweder wir sagen jungen Leuten: Ihr hattet zehn beschissene Jahre, die nächsten zehn werden besser. Ihr müsst jetzt noch kurz Geduld haben, und danach kümmern wir uns um euch. Das sagt aber keiner. Die andere Variante ist, ihnen zu sagen: Wir sind uns nicht sicher, ob es wirklich wieder besser werden wird. Aber wenn wir glauben, es wird weiterhin sehr angespannt bleiben, dann muss man Kinder und Jugendliche erst recht ins Zentrum rücken. Dann muss man praktisch überlegen: Wie können wir die jungen Leute so fit wie möglich machen, um unter schweren, problematischen Rahmenbedingungen in Zukunft weiter zu agieren? Dazu kommt auch noch, dass diejenigen, die jetzt gerade im Bildungssystem sind, potenziell die Jahrhundertwende erleben können. Wir machen gerade ziemlich viel falsch mit nachhaltigen Auswirkungen.
„Was wir übersehen, ist wirklich diese prägende Kraft der Orientierungslosigkeit, wenn das in Kindheit und Jugend passiert, dieses Gefühl, nichts funktioniert richtig. Und kaum jemand hat wirklich die Zukunft im Blick. Das gesellschaftliche Generationenverhältnis wird von jungen Menschen als sehr schlecht beschrieben.“ – Aladin El-Mafaalani
Das erscheint uns eine deutliche Parallele zu den 1920er-Jahren. Damals haben die Kids dieselbe Desorientierungserfahrung gemacht. Werte und Normen, Normalität, alles ist durch den Ersten Weltkrieg komplett gecrasht. Die Eltern haben jede Glaubwürdigkeit verloren, weil deren Rezepte nicht mehr funktioniert haben. Dann Hyperinflation, Straßenschlachten, Wirtschaftskrise, pipapo. Das ist dann die Generation, die ab 1933 eine historisch katastrophale Entwicklung genommen hat. Was halten Sie von solchen historischen Vergleichen?
Wir haben uns die Generationen erst ab der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs angeschaut. Aber ja, wir sehen leider viele Parallelen zu der Zeit vor ziemlich genau hundert Jahren, nicht nur bezogen auf die junge Generation, bis dahin, dass wir im Jahr '33 wahrscheinlich wieder eine Wahl haben.
Der Punkt ist dann doch psychologisch betrachtet: Was eine Gesellschaft oder ein soziales Umfeld leisten muss, ist, Orientierungssicherheit zu geben. Wenn diese Orientierungssicherheit nicht da ist, sondern nur Konfusion, dann wird es schwierig.
Ja, und was wir übersehen, ist wirklich diese prägende Kraft der Orientierungslosigkeit, wenn das in Kindheit und Jugend passiert, dieses Gefühl, nichts funktioniert richtig. Und kaum jemand hat wirklich die Zukunft im Blick. Das gesellschaftliche Generationenverhältnis wird von jungen Menschen als sehr schlecht beschrieben. Aber gleichzeitig ist die direkte Beziehung zwischen den Generationen erstaunlich gut und sogar so gut, dass – man mag das kaum glauben – eine große Mehrheit mit ja antworten würde auf die Frage: Würdest du Kinder in etwa so erziehen, wie du erzogen wurdest? Das ist tatsächlich der höchste Wert, den man bisher gemessen hat, und der beste Indikator für eine gute Generationenbeziehung. Auch die Zeit, die man mit Großeltern verbringt, oder die Häufigkeit der Kommunikation, auch über Messenger-Dienste, nimmt zu. Die direkten Beziehungen sind gut. Die gesellschaftlichen Generationenverhältnisse sind prekär.
Das heißt: Dass die Jungen nicht rebellieren, weil Mutti, Vati, Omi und Opi so dufte sind?
Ja. Es heißt, dass die Jungen bei Befragungen in genauso hoher Zahl gegen Rentenkürzungen sind, wie die Rentner selbst. Daran sieht man, es wird keinen direkten oder typischen Generationenkonflikt geben. Der wird sich anders ausdrücken. Übrigens, wenn weiter gefragt wird: Wie soll das denn dann finanziert werden? Dann sagen sie: über Steuerzuschuss. Hauptsache, es gibt keine Altersarmut und die Renten dürfen nicht reduziert werden. Sie wissen gleichzeitig, dass das für sie von Nachteil ist.
Lassen Sie uns eine wesentliche Erkenntnis vertiefen: Wir und die Kinder leben in einem jeweils anderen Deutschland. Kann man das so sagen?
Sie wachsen in einem anderen Deutschland auf, als unser Bild von Deutschland ist. Für sie ist es zum Teil irritierend, was angeblich typisch deutsche Eigenschaften sind, wenn sie erleben, dass die Dinge nicht funktionieren. Sie haben nämlich selbst kaum erlebt, dass Dinge verlässlich und pünktlich beginnen. Die Schule fällt häufig aus oder beginnt später. Es soll Online-Unterricht geben, aber das interessierte viele Lehrkräfte gar nicht. Eine Lehrkraft muss zwei Klassen parallel unterrichten und so weiter. Und das ist der erlebte Normalzustand, Lehrkräfte entschuldigen sich gar nicht mehr dafür, weil das andauernd passiert. Es entsteht ein Gefühl, dass das Selbstbild der Gesellschaft und das, was man selbst erlebt hat, gar nicht mehr zusammenpassen. Für junge Leute ist es ein Running Gag, dass die Erwachsenen sich verrückt verhalten.
Wie, weil wir so crazy sind, oder was?
Ja, bei TikTok interessieren sie sich für Erwachsene, die die Fassung verlieren, die Blödsinn erzählen. Covidioten, AfD-Politiker und andere, das sind alles ziemlich alte Leute, und die machen Sachen, die viel krasser sind als das, was den meisten jungen Leuten überhaupt einfallen würde. Aber nochmal: Das betrifft tatsächlich, und ich glaube, das ist neu in der starken Ausprägung, diese ganze Generation, egal ob sie in Armut oder in Wohlstand, in der Mittelklasse, im Wedding, in Neukölln oder sonst wo aufgewachsen sind. Gleichzeitig sehen wir, dass die ohnehin Benachteiligten durch diesen zusätzlichen Faktor noch stärker benachteiligt werden.
„Was bei FFF die Hoffnung gebracht hat, war nicht, dass sich alle jungen Leute einig waren: Klima ist das wichtigste Thema – sondern dass alte Leute auf junge Leute, die über die Zukunft reden, reagiert haben.“ – Aladin El-Mafaalani
Fridays for Future waren ja im Grunde der Versuch, Dinge neu durchzubuchstabieren, indem man nämlich eine Alterskohorte zusammengebracht hat, die sich eben nicht links-rechts definiert, sondern wo junge Leute, deren Zukunft ignoriert zu werden scheint, fordern, dass Politik für sie gemacht wird.
Richtig. Aber Sie gehen da so analytisch ran. Für junge Leute war das nicht so, sondern zum ersten Mal waren junge Menschen in der Öffentlichkeit präsent, und die Zukunft spielte im Diskurs eine Rolle. Und das hielt nur sehr kurze Zeit, gefolgt von einer starken Ernüchterung. Wir sind offenbar ganz schlecht darin, wirklich in die Zukunft zu blicken. In Demokratien ist es ohnehin schwierig, Demokratien haben einen starken Gegenwartsbezug. Aber wenn die Bevölkerung immer älter wird, dann wird der Gegenwartsbezug auch immer stärker. Was bei FFF die Hoffnung gebracht hat, war nicht, dass sich alle jungen Leute einig waren: Klima ist das wichtigste Thema – sondern dass alte Leute auf junge Leute, die über die Zukunft reden, reagiert haben. Das hat auch jungen Hedonisten oder FDP-Wählern Mut gemacht.
Durch Fridays ist eigentlich offensichtlich geworden, dass es nicht darum geht, das »Klima zu retten«, sondern um eine ordentliche Zukunft unserer Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Richtig. Aber bisher haben wir das Verfassungsgericht gebraucht, um das der Politik klarzumachen. Es gibt zwei Bereiche, die junge Leute am stärksten betreffen oder auch belasten, Klima und Bildung. Bei beiden hat das Bundesverfassungsgericht, ohne das Wort Minderheit oder Minderheitenschutz zu nennen, Urteile gesprochen, in denen in der Begründung die Missachtung der Interessen junger Menschen dargestellt wird, und der Bundesregierung gesagt, dass es so nicht geht. Dass die Nachteile für eine Gruppe, die sich jetzt nicht äußern kann, in Zukunft zu groß sind. Es ist peinlich für die Politik, wenn sie jedes Mal vom Verfassungsgericht hören muss, dass es so nicht geht. Daraus folgt die Idee, dass ein Minderheitenschutz für Kinder ins Grundgesetz gehört und dass die junge Generation institutionell angehört wird. Zukunftsräte müssen etabliert werden, das heißt, dass bei jedem Gesetz und jedem Beschluss vorher ein Gremium öffentlich angehört werden muss, das aus Zehn- bis Dreißigjährigen besteht.
Wem ist das eigentlich klar, wie schlimm die Lage ist?
Anders als beim Klima ist noch längst keine kritische Masse von der Dramatik überzeugt. Wer weiß denn, dass die Bildungsergebnisse so schlecht sind, wie wir sie bislang noch nie gemessen hatten? Keiner. Wer interessiert sich dafür, dass das Wohlbefinden von Kindern abnimmt und auch bestimmte gesundheitliche Aspekte Rückschritte machen? Wir sind gerade da, wo der Klimadiskurs in den 1970er-, 1980er-Jahren gesteckt hat. Aber das Krasse ist: Es ist bei beiden schon sehr spät. Wie sollen wir Klimapolitik in den nächsten Jahrzehnten hinbekommen, wenn die nachwachsende, immer kleiner werdende Generation dazu nicht befähigt wird? Wir haben wirklich ein richtig schlimmes Problem. Deswegen sind auch unsere Lösungsansätze so komplex. Es gibt einen Fachkräftemangel, den können wir auch nicht auflösen. Selbst mit ein paar Sondervermögen für Kinder müsste man überlegen, wie man das mit dem Personal regelt. Das ist komplex, aber da ist noch viel mehr: Man muss das Verhältnis von Familie und Staat umdenken. Und die Versäulung von Politik. Das fängt schon damit an, dass immer noch vier bis sechs Ämter in einer Kommune für ein Kind zuständig sind. Und das alles nicht ineinander verschränkt ist. Das funktioniert für die Kinder nur, wenn am Ende die Eltern alles regeln können. Aber wenn die Eltern die Rentenkasse füllen sollen und deshalb beide arbeiten, können sie das nicht auch noch regeln. Und dann ist da noch etwas: Das Fachkräfteproblem im pädagogischen Kontext und das Fachkräfteproblem auf dem Arbeitsmarkt insgesamt ist noch gar nicht angekommen, weil die Boomer noch arbeiten.
Ist das gut?
Nein, es heißt, den Kindern geht es bereits jetzt schlecht, und das, bevor der demografische Höhepunkt das größte Problem erzeugt. Ich fürchte, das wird im Krisenmodus gelöst werden müssen.
Sie wollen als Teil der Lösung die Boomer in die Pflicht nehmen.
Sagen wir so: Wir glauben, dass das Seniorenalter anders strukturiert sein muss. Die 1960er-Geburtsjahrgänge sind allein zehnmal so viele wie alle Erzieherinnen und alle Grundschullehrkräfte in Deutschland zusammen.
Aber glauben Sie wirklich, dass die Boomer-Rentner auf Kreuzfahrten verzichten und in den Schulen und Kitas vorlesen oder dass die von ihren Stimmen abhängigen Parteien das politisch vertreten?
Also, die Boomer leben ja nicht auf einer Insel der Glückseeligen. Nehmen Sie eine Person, die 66 Jahre alt ist und in Rente geht. Sie weiß, dass es jetzt schon einen Pflegenotstand gibt und wie der Bundeshaushalt aussieht und wie viel davon für die Renten ausgegeben wird. Wenn diese Person erfährt, dass die nachwachsenden Generationen zahlenmäßig zu klein sind und vielfältige Probleme haben, glaube ich schon, dass es sinnstiftend sein kann, sich als Rentner zu engagieren. Zumal es von dieser kleinen Gruppe junger Menschen abhängt, wie gut ich selbst im Alter leben werde, wie die Wirtschaftskraft sein wird und, und, und.
Die Boomer waren die letzten Kinder, für die richtig Politik gemacht wurde?
Sagen wir so: Die großen Innovationen, von denen durchaus Kinder heute profitieren, wurden gemacht, als die Babyboomer Kinder und Jugendliche waren. Weil es so viele waren. Das Bundesjugendkuratorium, ein gesetzlich verankertes Gremium, das die Bundesregierung beraten muss, wurde als Reaktion auf die Babyboomer eingeführt. Gewaltfreie Erziehung, die Expansion des Bildungssystems und eine Liberalisierung der Gesellschaft, das begann zu dieser Zeit. Deswegen ist meine Generation die privilegierteste.
„Die Eltern übertreiben also nicht damit, dass sie sich individuell so sehr um die Kinder kümmern, denn man kann nicht mehr einfach sagen, geh raus und spiel. Die Räume sind nicht mehr da.“ – Aladin El-Mafaalani
Warum jetzt Ihre Generation?
Für die vielen Babyboomer wurde Infrastruktur aufgebaut. Sie haben sie aber nicht mehr erlebt, wie immer ist alles erst zu spät fertig geworden, da waren sie schon raus aus dem Alter. Ich bin Ende der Siebziger geboren. Wir waren schon viel weniger. Ich selbst bin im Ruhrgebiet in aus heutiger Sicht strukturschwachen Städten aufgewachsen, aber wir wussten gar nicht, in welchem der vielen Proberäume wir Musik machen sollten, wir wussten gar nicht, in welches Jugendzentrum wir gehen sollten, so viele Möglichkeiten hatten wir. Wir waren überversorgt, und das lag daran, dass für die Babyboomer so viel aufgebaut wurde. Die Infrastruktur wurde dann abgebaut, also ab den Geburtsjahrgängen Ende der 1980er hatte das zur Folge, dass es immer weniger Orte und Räume für Kinder gab. Die Eltern übertreiben also nicht damit, dass sie sich individuell so sehr um die Kinder kümmern, denn man kann nicht mehr einfach sagen, geh raus und spiel. Die Räume sind nicht mehr da.
Was passiert, wenn der öffentliche Raum wegfällt?
Es gibt jetzt ein Ausweichmedium für Kinder: Draußen geht es nicht, jetzt geht es ins Digitale. Und zwar sehr -unkoordiniert. Es ist tragischerweise so, dass im Digitalen das kompensiert wird, was Kinder im Analogen kaum noch haben. Mit sehr vielen negativen Kollateralschäden: Zugang zu Pornografie ist so einfach wie noch nie, Zugang zu Gewaltdarstellungen, motorische Probleme, wenn man unkontrollierten Medienkonsum hat und, und, und. Deshalb finde ich, das Schimpfen über Helikoptereltern ist nur dann gerechtfertigt, wenn man den Stil meint.
Über diesen angeblichen Typus wurden schon Millionen Witze gemacht.
Klar, mein Kind über alles, das gibt es sicher, aber das ist ein krasses Randphänomen. Das ist statistisch gar nicht darstellbar. Anders ist das mit Eltern, die merken, wir sind in einer Schieflage, das System funktioniert gar nicht. Mein Kind hat keine Räume mehr, wo es sich frei bewegen kann. Ich muss es aber in die Ganztagsschule schicken, weil ich arbeiten muss und zudem alle anderen Kinder auch dort sind. Es gibt ein zu gering ausgeprägtes Problembewusstsein, unter welchem Druck Eltern stehen. Was wir tatsächlich haben, sind sehr besorgte Eltern, die wahrnehmen, dass sie die Sachen nicht mehr im Griff haben, dass sie selbst auch permanent ein schlechtes Gewissen haben, weil sie zu wenig Zeit haben, und ansonsten die Räume und die Institutionen nicht mehr da sind, wie man es bräuchte. Es sind übrigens vor allem die Eltern, die wissen, wie schlecht die Bildungsstudien ausfallen. Aber die Eltern von Minderjährigen sind unter den Erwachsenen halt auch nur eine Minderheit.
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