: Deutschlands Natur stirbt weiter
Die Gefahr für Streuobstwiesen und klare Seen wächst. Mittlerweile stehen 72 Prozent aller Biotope auf der Roten Liste. Damit bekommt Deutschland ein Problem mit seiner Glaubwürdigkeit beim Umweltschutz, sagt Bundesminister Sigmar Gabriel
AUS BERLIN NICK REIMER
Der Artenverlust bei Tieren und Pflanzen geht in Deutschland unvermittelt weiter. Dies geht aus der gestern in Berlin vorgestellten neuesten Auflage der „Roten Liste“ für gefährdeten Biotoptypen hervor. „Demnach gelten 72 Prozent aller 690 verschiedenen Lebensräume in Deutschland als gefährdet oder sogar als akut von der Vernichtung bedroht“, erklärte Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD). Der Verlust an Lebensräumen sei nicht oder nur mit großem Aufwand rückgängig zu machen. Gabriel: „Verschwindende Arten sind gelöschte Daten auf der Festplatte der Natur.“
Neben Roten Listen für bedrohte Tiere und Pflanzen gibt es auch eine Rote Liste für bedrohte Biotope. Diese werden etwa alle zehn Jahre aktualisiert, die letzte Biotopen-Liste stammt von 1994. „Damals galten 68 Prozent der Lebensräume als bedroht“, so der Bundesumweltminister. Besonders dramatisch sei der Rückgang einstmals weit verbreiteter blumenreicher Wiesen und Weiden oder der Klarwasser-Seen. Auch Streuobstwiesen, einst weit verbreitet im Gürtel der Dörfer, würden zunehmend aus der Flur verschwinden.
Als Gründe für die Zustandsverschlechterung nannte Gabriel „einen weiteren Rückgang naturnaher Wälder, einen nach wie vor hohen Flächenverbrauch sowie eine steigende Nutzungsintensität in den Kulturlandschaften“. Negativ habe sich auch die Umschichtung von EU-Agrarmitteln ausgewirkt. Das System besteht seit der EU-Agrarreform aus Topf 1 und Topf 2: Aus dem ersten Topf werden klassische Agrarsubventionen bestritten, der zweite soll die sanfte Nutzung von Naturräumen unterstützen, etwa durch Ökolandbau, Naturtourismus oder Landwirte, die naturfreundlich wirtschaften. „Leider ist der zweite Topf im vergangenen Jahr zugunsten des ersten Topfes zusammengestrichen worden“, so Gabriel. Dringend müsse dies bei der Evaluierung der europäischen Agrarpolitik 2008 korrigiert werden.
Allerdings sieht der Bundesumweltminister auch positive Signale: „Die Naturschutzpolitik der EU hat mit der Vogelrichtlinie, der Wasserrahmenrichtlinie oder der FFH-Richtlinie dazu beigetragen, dass es stellenweise auch Stabilisierungen gegeben hat“. So habe sich etwa die Ausweisung von drei Gebieten an der Nord- und zwei Gebieten an der Ostsee stabilisierend auf die Biotope ausgewirkt. Gabriel: „Das zeigt, dass es überhaupt keinen Grund gibt, über angeblich überzogene Naturschutzpolitik durch die Kommission zu lamentieren“.
Kein Grund zur Entwarnung, erklärte auch der Vizepräsident des Bundesamtes für Naturschutz, Robert Ley. Besonders in vielen Mittelgebirgsregionen habe sich die Situation insgesamt weiter verschlechtert, erläuterte Ley. Der Vizepräsident machte deutlich, dass es sich bei den Roten Listen nicht um statistischen Firlefanz von Naturschützern handele, sondern dass sie Grundlage für knallharte Wirtschaft sind. So greife sie auch ins Baurecht ein. „Sogar das Bundesverfassungsgericht befasst sich mit der Liste“, sagte Ley.
Doch die Rote Liste sei nicht nur für den Umweltschutz in Deutschland wichtig, sagte Gabriel. „Wie wollen wir bei den Brasilianern dafür werben, Regenwald nicht abzuholzen, wenn wir unsere eigene Natur weiter vernichten?“ Wichtig sei ein solcher Hinweis etwa für die künftigen Verhandlungen zum internationalen Klimaschutz. Wer einen Bär, der durch Bayern streunt, einfach erschießt, könne den Afrikanern schlecht den Schutz der Löwen andienen. Gabriel: „Die Gefahr durch Löwen in Afrika ist für den Menschen schließlich deutlich größer als die durch Braunbären in Mitteleuropa.“
Liste: www.bfn.de