Deutschland lacht über BER-Desaster: Berlin kriegt die Quittung
Hinter der Häme über das Flughafendesaster steckt der Neid über das angeblich gute Leben an der Spree. Dabei ist Berlin oft piefige Provinz.
Berlin war mal mehr als angesagt und hip. Berlin war mal cool. Richtig cool. Leider ist das fast 25 Jahre her.
In den Wirren der Wendezeit wirkte die Ex-und-noch-nicht-wieder-Hauptstadt irre. Ossis kauften an der Sonnenallee die Läden leer, soffen auf der Oranienburger so lange, bis sie kaum noch ein Bier aufkriegten – und brummten dann mit ihren Trabis davon. In den Hausfassaden erzählten Abdrücke von Maschinengewehrgarben vom Zweiten Weltkrieg.
In Wohnungen wurden Schreibtische von ihren BesitzerInnen so platziert, dass sie die Türen versperrten – der dazugehörige Balkon war schon vor Jahrzehnten abgestürzt. In dubiosen Kellern eröffneten immer neue Clubs, zugemauerte Hauseingänge verwandelten sich in U-Bahn-Passagen, zu denen vorher nur die DDR-Grenztruppen Zugang hatten. Das roch nach Anarchie: Dem „Westdeutschen, der sein Geld versäuft“ (Ideal), stand das Maul offen.
Union und FDP im Bund stellen sich gegen eine Berufung von Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) an die Spitze des Berliner Flughafen-Aufsichtsrats. Der haushaltspolitische Sprecher der Union, Norbert Barthle (CDU), sagte der Berliner Zeitung, das Problem werde nicht gelöst, wenn Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) den Aufsichtsratsvorsitz an Platzeck abgebe.
Der Vize des Bundestagshaushaltsausschusses, Herbert Frankenhauser (CSU), sagte der Zeitung Die Welt, Platzeck sei wie Wowereit von Anfang an in dem Kontrollgremium gewesen. „Dass eine Pfeife durch eine stellvertretende Pfeife im Aufsichtsrat ersetzt werden soll, erscheint in Anbetracht der prekären Lage wenig sinnvoll“, sagte Frankenhauser. FDP-Chefhaushälter Otto Fricke sagte dem Blatt: „Auch Platzeck muss von dem Platz weg.“
Der neue Hauptstadtflughafen Berlin-Brandenburg (BER) könnte nach Einschätzung eines Flughafenexperten im schlimmsten Fall erst im Jahr 2017 in Betrieb gehen. „Wer jetzt den BER schnell in Betrieb nehmen will, taumelt von einem Desaster in das nächste“, sagte Dieter Faulenbach da Costa, der bereits zahlreiche Flughäfen weltweit beriet, der Berliner Morgenpost vom Donnerstag. Es spräche „nicht viel“ dagegen, den bisherigen Bau abzureißen und den Flughafen neu zu bauen.
Zu bekam er es auch daheim nicht mehr. Wer in sein wollte, ging – und, so ist zu befürchten, geht noch immer – nach Berlin. Ganze Karawanen stilbewusster Gelangweilter sind nach 1988 an die Spree gezogen. Billig war das nie: Gute Jobs, von denen man leben kann, gab es vor 20 Jahren noch weniger als heute.
„Berlinförderung“
Denn die Hauptstadt hängt seit Gründung der Bundesrepublik am Tropf Westdeutschlands. Erst hieß das Ganze „Berlinförderung“ und sollte die Zufriedenheit der eingeschlossenen Bewohner des Westteils sicherstellen – die Propagandawirkung einer Massenflucht in den ebenso gepimperten, „Hauptstadt der DDR“ genannten Osten wäre schließlich verheerend gewesen. Und nach der Wende sprudelte das Geld weiter.
Jetzt heißt es „Länderfinanzausgleich“: Von den 128 Milliarden Euro, die seit 1990 in diese Umverteilungsmaschine geflossen sind, landeten satte 45 Milliarden in Berlin – das ist mehr als jeder dritte Euro. An zweiter Stelle liegt Sachsen mit 17 Milliarden. Das auf Platz drei liegende Sachsen-Anhalt konnte noch 10 Milliarden abgreifen.
Gezahlt haben mit jeweils 38 Milliarden vor allem Hessen und Bayern, es folgt Baden-Württemberg mit knapp 36 Milliarden. Selbst aus dem von Kohle- und Stahlkrise gebeutelten Nordrhein-Westfalen flossen Milliarden. Ein „Skandal“ sei das, kommentiert nicht nur die Westdeutsche Zeitung aus Düsseldorf.
Arm aber sexy
In Süd- und Westdeutschland wächst die Wut auf die Berliner nicht erst seit den „Arm-aber-sexy“-Sprüchen des Regierenden Wowereits. Seit einem knappen Vierteljahrhundert müssen sich die Daheimgebliebenen anhören, wie gut es sich doch an der Spree leben lässt – selbst wer dort scheitert, gibt das beim Verwandtenbesuch nicht gern zu. Und natürlich hat Berlin noch heute viel, was auch westdeutsche Großstädte gern hätten – das geniale, leider aber schon zu Vorkriegszeiten angelegte U-Bahn-Netz zum Beispiel.
Denn das funktioniert im Gegensatz zum längst nicht fertigen Großflughafen „Willy Brandt“ immerhin tadellos. Die Häme aber, die sich wegen des Pannen-Airports über die Berliner ergießt – sie hat andere Quellen: Hinter ihr steckt der Neid auf das aus der Ferne gefühlte gute, subventionierte Leben ohne Gegenleistung, das die Hauptstädter in den Augen vieler Westdeutscher führen.
Und der Neid, der sucht sich merkwürdige Ventile. Etwa den ziemlich speziellen Streit, ob Brötchen besser Weckle (wie sie die Schwaben in Prenzlauer Berg nennen) oder doch noch Schrippen genannt werden sollten. „Wer 60 Jahre in den Länderfinanzausgleich einzahlt, darf Backwaren in ganz Deutschland so nennen, wie er will“, tönte etwa Baden-Württembergs FDP-Vorsitzende Birgit Homburger, natürlich in Stuttgart.
Verdient hat Berlin das nicht. Die Quittung für die eingesackten Milliarden zahlt die Stadt schon längst: Die zugezogenen Spießer, die ganze Bezirke mit dem Flair ihrer piefigen Provinz überziehen, sind Strafe genug. Die Jahre, in denen Berlin richtig cool war, sind lange her. Leider.
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