: Deutscher Herbst im 19. Stock
■ Gestern begann die grüne Bundestagsfraktion eine öffentliche Diskussion über zehn Jahre Deutscher Herbst Initiatorin Antje Vollmer: Amnestie ohne Heroisierung für RAF–Gefangene / Kontroverse um Sprecherlaubnis
Aus Bonn Charlotte Wiedemann
Im 19. Stock des Bonner Abgeordnetenhochhauses „Langer Eugen“ begann die grüne Bundestagsfraktion gestern nachmittag, wie Initiatorin Antje Vollmer es nannte, „eine der heikelsten Debatten, die wir je geführt haben“: eine öffentliche Diskussion über zehn Jahre deutscher Herbst und heutige „Deeskalations– und Lösungsstrategien“. Noch nie, sagte Antje Vollmer, hätte sie vor einer Fraktionssitzung so gezittert. Das auch öffentlich spürbare Zittern der Grünen hatte einen gewaltigen Presseauftrieb angelockt, doch warteten die Kameras zunächst vergebens auf Skandale und Provokationen. Antje Vollmer erläuterte eine parlamentarische Anfrage zum deutschen Herbst und vertrat dabei die Ansicht, das Terrorismus–Problem stamme aus einer historisch überholten Phase gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Der deutsche Herbst sei ein „Testfall für die Bewährung de mokratischer Widerstandskraft“ gewesen, der nicht bestanden wurde. Die „Beendigung des Terrorismus–Problems“ dürfe nicht länger ausschließlich Sache der Polizei und der Sicherheitsorgane sein, sondern müsse „wieder in der Verantwortung von Politik und Gesellschaft liegen“. Dazu gehöre die Einsicht in „unser aller Mitschuld“ beim Versagen einer demokratischen Öffentlichkeit. Eine Heroisierung der RAF–Gefangenen, wie sie auch Jutta Ditfurth vertrete, würde die Gefangenen nur „tiefer in die Haft treiben“. Die Schwierigkeit eines Dialogs bestehe heute darin, daß nach den Toten von Stammheim die „anerkannten Adressaten“ eines Dialog–Angebots fehlen würden. Zur Aufklärung der Stammheimer Todesumstände forderte Antje Vollmer, alle Dokumente und Tonbänder offenzulegen. Als heute noch vorhandene Konfliktlösungsmöglichkeiten nannte sie die Aufhebung aller Sonderhaftbedingungen für RAF–Mitglieder, die Entlassung der „Aussteiger“ zum rechtlich frühestmög lichen Zeitpunkt, die Entlassung aller Haftunfähigen und die Ausschöpfung des Gnadenrechts und eine „Amnestie als Endziel“. Ganz wichtig sei der Verzicht auf öffentliche Distanzierungserklärungen. Im Vorfeld der eigentlichen Debatte war es in der Fraktion zu einer Kontroverse gekommen, wer bei einer von der CDU/CSU beantragten Aktuellen Stunde im Bundestag zum „Terrorismus“ heute reden darf. Hubert Kleinert, der die Distanzierung von den Äußerungen Jutta Ditfurths - sie hatte die Freilassung aller RAF– Gefangenen gefordert -, in den Mittelpunkt stellen wollte, unterlag dabei Christa Nickels, die statt für einen „moralischen“ für einen „machtpolitischen“ Dialogansatz plädierte. Dialog unverzichtbar Bonn (dpa/ap/taz) - Der SPD– Vorsitzende Hans–Jochen Vogel beharrte vor Journalisten auf seiner Haltung, daß der Staat Erpressern nicht nachgeben dürfe. Das Verhalten der Bundesregierung im Fall Schleyer halte auch heute noch der Nachprüfung stand. Das umstrittene Kontaktsperregesetz, mit dem die Verbindung inhaftierter–RAF–Mitglieder zur Außenwelt unterbunden wurde, habe erheblichen Zeitgewinn bei der Suche nach Schleyer gebracht. Der stellvertretende FDP–Bundesvorsitzende Gerhart Baum sprach sich für eine „gerechtere Behandlung ehemaliger Terroristen“ aus. Den Dialog mit Aussteigern hält er für unverzichtbar. Der Staat solle einsichtigen Tätern, die ihre Strafe größtenteils verbüßt hätten, Chancen für einen Neubeginn einräumen. Eine generelle Amnestie sei jedoch aus rechtspolitischen Gründen abzulehnen. „Mut zur Umkehr“ möchte der innenpolitische Sprecher der FDP im Bundestag, Burkhard Hirsch, den Terroristen und ihren Sympathisanten machen. Diese Umkehr dürfe jedoch weder Widerruf eines Urteils noch Minderung der Schuld bedeuten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen