Deutsche werden Jobrebellen: Die Streikrepublik
Streiken ist wieder in. Das Institut der Wirtschaft schätzt, dass 580.000 Arbeitstage im Jahr 2007 verloren gingen.
Es läuft nicht schlecht für Frank Bsirske. Jeden Tag kommen neue Meldungen über die Ticker: Warnstreiks in Münchner Kitas, Kölner Krankenhäusern und niedersächsischen Verwaltungen. Fast 115.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes haben sich bisher an den Arbeitsniederlegungen beteiligt, meldete Ver.di am Donnerstag stolz.
Ver.di-Chef Bsirske kann zufrieden sein - vor dem Start der neuen Verhandlungsrunde am Montag hat er mit einer sorgfältig orchestrierten Streikwoche Kampfkraft bewiesen. Es ist nur ein Ausstand unter vielen: Der Einzelhandel streikt seit Monaten, den fulminante Arbeitskampf der Lokführer haben alle in Erinnerung. Ein Land mutiert zur Streikrepublik - entwickeln sich die dienstbeflissenen Deutschen zu Jobrebellen?
"Tatsächlich haben in den vergangenen zwei Jahren die streikbedingten Ausfalltage stark zugenommen", sagt Heiner Dribbusch, Gewerkschaftsexperte vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. "Dies fällt auch deshalb so stark auf, weil Deutschland im internationalen Vergleich ein Wenig-Streik-Land ist."
Die Statistik über Ausfalltage durch Arbeitskämpfe führt die Bundesagentur für Arbeit: 2006 verzeichnete die Agentur fast 430.000 verlorene Arbeitstage - die höchste Zahl seit 15 Jahren. Den Ausfall für das vergangene Jahr prognostiziert das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) gar auf 580.000 Ausfalltage. Dies wäre - auf der Basis von Gewerkschaftsmeldungen - ein neuer Rekord für die Bundesrepublik. Wobei IW-Experte Hagen Lesch einschränkt, dass die Gewerkschaften "in ihren Meldungen gern übertreiben".
Zum Vergleich: Im Jahr 2004 gingen rund 51.000 Arbeitstage durch Streiks verloren, 2005 waren es gar nur 19.000. Es gibt mehrere Gründe dafür, dass Gewerkschaften und Beschäftigte so kampfeslustig sind wie seit Jahren nicht mehr. WSI-Mann Dribbusch sieht, "dass die Konfliktbereitschaft des Arbeitgeberlagers zugenommen hat". Deren Offerten bedeuten für die Beschäftigten oft real keinen Euro mehr, manchmal Kürzungen. Jüngstes Beispiel ist das Angebot von Bund und Kommunen für die 1,3 Millionen Angestellten im öffentlichen Dienst: 5 Prozent mehr Lohn, verteilt auf zwei Jahre, außerdem eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 40 Stunden - rechnet man Arbeitszeit und die Inflationsrate dagegen, springt für die Beschäftigten kein Plus heraus.
Entsprechend stark hält die Gewerkschaft dagegen. Sie fordert 8 Prozent mehr Lohn mit einer Laufzeit von einem Jahr, mindestens aber 200 Euro mehr - was bei Niedriglöhnern ein Plus von 15 Prozent ausmachen würde. Generell gilt: Die Streikbereitschaft nimmt im Wirtschaftsaufschwung zu. Weil die Beschäftigten ihr Stück vom Kuchen einfordern - und weil sie bei vergangenen Abschlüssen oft zurückgesteckt haben. "Das Streikvolumen verhält sich prozyklisch", heißt es in einer Streikanalyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. "In konjunkturell günstigen Phasen wird deutlich mehr gestreikt."
Dabei entfaltet sich eine Sogwirkung. Hat die eine Gewerkschaft mit einem guten Abschluss vorgelegt - wie es etwa die IG Metall Mitte der Woche in der nordwestdeutschen Stahlindustrie vorgemacht hat - geraten die anderen in Zugzwang. "Solche Abschlüsse beeinflussen die Erwartungshaltung der Mitglieder", sagt Dribbusch. Für Ver.di geht es im öffentlichen Dienst ums Überleben - die Organisation leidet seit Jahren unter Mitgliederschwund. Bei den letzten zwei Abschlüssen gab man sich mit niedrigen Einmalzahlungen zufrieden. Nun hat ihr Chef Bsirske seine Truppen früh auf eine harte Gangart eingeschworen. Er braucht den Erfolg.
Doch auch die Kommunen haben 110 Milliarden Euro Schulden und - trotz steigender Steuereinnahmen - wenig Spielraum. Thomas Böhle, der Präsident der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) rechnet bereits mit einem Scheitern der Gespräche: "Es sieht so aus, dass es im Frühjahr Streiks gibt", sagt er. Auch wenn solche Einschätzungen zum Gutteil taktisch motiviert sind - 2008 droht ein heißes Streikjahr zu werden.
Verstärkt wird die Wandlung der Streikkultur in Deutschland durch die zunehmende Auflösung des Flächentarifs. Die Gewerkschaften führen in vielen Branchen Abwehrschlachten. "Das ist ein neues Phänomen", sagt IW-Fachmann Lesch. In der Streikstatistik schlug im Jahr 2007 besonders der Telekom-Streik zu Buche. Mit einem mehrwöchigen Ausstand wehrte sich Ver.di gegen eine Auslagerung von 50.000 Mitarbeitern in Servicegesellschaften - letztlich ohne großen Erfolg.
Ebenfalls ein eher junges Phänomen ist die Konkurrenz von Arbeitnehmervertretern untereinander. Kleingewerkschaften wie die der Lokführer oder der Marburger Bund der Ärzte brechen aus der Tarifgemeinschaft aus und holen so für ihre Edelklientel hohe Abschlüsse heraus. "Diese interne Konkurrenz führt zusätzlich dazu, dass mehr gestreikt wird", sagt Lesch. Wobei er und andere Experten betonen: Spitzen in der Statistik kommen immer wieder vor.
Von Verhältnissen wie in Italien oder Frankreich ist Deutschland noch weit entfernt. Hierzulande fielen im starken Streikjahr 2006 ganze 13 Arbeitstage je 1.000 Arbeitnehmer aus. So hat es das Institut der Wirtschaft berechnet. In Italien waren es 27. Gleichzeitig rutscht Deutschland im Vergleich mit extrem ruhigen Ländern wie Japan oder Österreich ab. "Früher spielte Deutschland beim Thema Arbeitsfrieden in der Spitzengruppe", sagt Lesch, "jetzt nur noch im gehobenen Mittelfeld."
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