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Der traurige Abzocker

von HEIKE HAARHOFF

Eine einzige Kugel aus einem Karabiner kann sieben Menschen töten, wenn man diese nur geschickt in einer Reihe sich aufstellen lässt. Der Vater weiß das aus Erfahrung, er hat sowohl 14 bis 18 als auch 39 bis 45 gekämpft. Munition war immer knapp, da musste man sich schon etwas einfallen lassen, um nicht selbst vom Feind erschossen zu werden. Er hat überlebt. Warum? Männer dürfen keine Angst vorm Sterben haben, niemals. Das ist das Thema, über das der hoch betagte Soldat noch 20 Jahre nach Kriegsende ständig spricht, bevorzugt mit seinem kleinen Sohn Peter Zickenrott, dem Nachkömmling aus zweiter Ehe.

Der sagt: „Jahrelang war ich ihm und seinen Geschichten ausgeliefert.“ Der Sohn aber hat Angst vorm Sterben, große Angst, „weil das, was nach dem Tod kommt, nie wieder aufhört, ich bin fast wahnsinnig geworden bei dem Gedanken“. Als der Sohn acht ist, stirbt der Vater.

Motivation Rennwagen

„Ich hatte nie Gelegenheit“, sagt Peter Zickenrott, 39, „ihn als Lügner zu überführen.“ Ein Satz, den man samt Kunstpause und Sorgenfalte auf der Stirn gut vor dem Spiegel üben kann. Ein Kindheitstrauma, in drei Minuten und ohne Umschweife vor wildfremdem Besuch heruntergespult. Ein Bericht, den die Wiederholung geglättet hat.

Eine Erklärung, sagt Peter Zickenrott, weshalb er es heutzutage allen Männern ersparen möchte, in den Krieg zu müssen. Oder zum Militär, wo der Krieg geübt wird. Oder zum Zivildienst, wo man bloß seine Zeit verschwendet. Oder ins Gefängnis, wohin die Totalverweigerung im Zweifel führt. Ein Grund, einen in Deutschland wohl einmaligen Beruf auszuüben: Ausmusterungsberater in seinem Ein-Mann-Betrieb „Zicki’s Hot Info Service“.

Ein anderer Grund, weshalb Peter „Zicki“ Zickenrott junge, kraftstrotzende Männer gegen ein ansehnliches Honorar berät, wie sie es an der Schwelle zum Kreiswehrersatzamt garantiert zur plötzlichen und unerwarteten Untauglichkeit bringen, steht in der Garage seines noch nicht ganz abbezahlten Dreifamilienhauses in Schwarzwälder Hanglage in der Kleinstadt Waldshut an der Grenze zur Schweiz: ein silbergrauer Honda Cabrio mit roten Ledersitzen, der nun mal dafür gebaut ist, dass Peter Zickenrott ihn mit mindestens 70 Sachen durchs Dorf jagt, selbst wenn auf Verkehrsschildern „Tempo 30“ steht. Daneben parkt ein zweites Renngefährt Marke Yamaha, von dessen staubaufwirbelnden Einsätzen oben im Ausmusterungsbüro auch Fotos hängen. „Ein teures Hobby“, verrät Peter Zickenrott; 30 Sekunden Autorennen in Südfrankreich können schon mal 1.000 Mark kosten, An- und Abreise und Unterkunft nicht eingerechnet. Er blickt so aufrichtig drein wie ein Messdiener mit Klingelbeutel: „Es gibt Menschen, die brauchen einfach mehr Geld als andere.“

Und wie sollte er, ein Mann mit großem Interesse an Psychologie, aber leider nur mit Hauptschulabschluss – „im Bekanntenkreis werde immer ich gefragt, wenn es Beziehungsprobleme gibt“ –, wie sollte er an dieses Geld kommen? „Ich habe Heizungsmonteur gelernt und Einzelhandelskaufmann gemacht, aber das war alles nichts.“ Nichts für einen, der davon träumt, „so viel Geld zu haben, dass ich den ganzen Tag auf einer Bank vor meinem Haus mit einem Glas Rotwein sitzen kann“. Und ab und zu Rennen fahren. So einer braucht einen Job, mit dem man schnell zu viel Geld kommt. So einem bleibt nur, den großen Erfolg seines Lebens – die eigene Ausmusterung wider Erwarten und ganz ohne fremde Hilfe – zu vermarkten: „Insofern bin ich schon Kapitalist.“

Das Telefon klingelt. Kundschaft. Peter Zickenrott wiederholt laut, was ihm am anderen Ende der Leitung anvertraut wird: „So, Sie sind jetzt bereits seit zwei Monaten beim Zivildienst und brauchen die Zeit aber eigentlich für sich selbst und für ihre Firma...“ Ein gewöhnlicher Fall. Der Berater muss nicht lange überlegen.

Tipp: psychisch krank

Die Anweisung lautet: Entweder zieht der Zivi seine Verweigerung zurück. Dann wird er aus dem Ersatzdienst entlassen und hat Zeit, erklärt ihm Peter Zickenrott, bis zur Nachmusterung „eine Strategie zu entwickeln, die dann zum gewünschten Ergebnis der Ausmusterung führt“. Im Klartext: eine Krankheit zu entwickeln, am besten eine psychische – „mit Rücken, Knien oder Asthma haben Sie ja in Zeiten geburtenschwacher Jahrgänge keine Chance mehr“, bedauert Peter Zickenrott. Oder aber der Zivi lässt sich ab sofort krankschreiben und wartet, dass er auf diese Weise irgendwann von allein ausgemustert wird. Der Anrufer ist schnell von Begriff. „Ja, Herzrhythmusstörungen, das wäre ’ne Möglichkeit“, sagt Peter Zickenrott, „und wenn Sie dann auch noch feststellen, dass Sie panisch reagieren ...“ Der Zivi scheint Einwände zu haben. Zickenrott, ungeduldig: „Hören Sie, es geht hier nicht um Betrug, sondern darum, dass ich Ihnen helfe, Ihre Krankheiten zu erkennen und sie so darzustellen, dass es dann zum gewünschten Ergebnis der Ausmusterung führt.“

Damit das aber wirklich passiert, bestellt der Zivi jetzt erst mal Peter Zickenrotts „Anti-Wehrdienst-Report“ zum Nachnahmepreis von DM 550 und verspricht, seinen Gesundheitszustand anhand der Krankheiten, die in dem knapp 100-Seiten-Werk aufgelistet sind, kritisch zu überprüfen. Der Preis, sagt Zickenrott, sei fast noch zu günstig. Schließlich werde sein Report stets aktualisiert. Neulich beispielsweise hat der Autodidakt, der „alles über Psychologie liest, sogar Medizinfachzeitschriften, falls ich mal da rankomme“, das Tourette-Syndrom entdeckt: „Das sind Menschen, die Obszönitäten rausbrüllen, ob sie wollen oder nicht. Da ist dann einer beim Bäcker und will Brötchen und sagt aber: Du Arschficker.“ Oder die unterschiedlichsten Formen der Depression. „Es wäre doch schade, wenn die unerkannt blieben.“ Nicht, dass Peter Zickenrott jemals eine Diagnose wagen würde. Nicht, dass er jemanden zu einer Krankheit überreden würde. Aber sind wir nicht alle ein bisschen krank? In diesem Fall könnte Peter Zickenrott möglicherweise einen Arzt empfehlen, zu dem er selbstredend keinen persönlichen Kontakt hat, „mit dem Ihre Vorgänger aber gute Erfahrungen gemacht haben“.

Das ist alles. Und es funktioniert. In den vergangenen zehn Jahren 11.000 Mal, prahlt es von einem Plakat an der Wand, 11.000 Mal 550 Mark, denn bezahlt werden muss im Voraus: „Erfolgsquote 100 Prozent“, verspricht die Werbung, auch im Internet über http://www.ausmusterung.com zu erreichen. Deswegen gibt es auch kein Geld zurück, nix da. „Selbst wenn Sie eingezogen werden, können Sie der Bundeswehr ja noch entkommen.“ Wie das? „Sie müssen nur aufs Dach klettern und drohen, runterzuspringen.“

Mittlerweile ist Peter Zickenrott nicht unfroh darüber, dass ein Verkauf seines Geschäfts vor fünf Jahren an der Höhe des Kaufpreises scheiterte. Mittlerweile hat er seine Verantwortung erkannt: „Das Militär will aus fühlenden, denkenden Individuen einen unwichtigen Teil einer Gruppe machen.“ Die zweite Begründung für seine Mission kommt ihm weniger holprig über die Lippen. „Ich bin überzeugt davon, dass in der heutigen Zeit kein Mensch mehr gesund erwachsen werden kann, wir arbeiten doch alle nur noch dafür, dass wir uns Porsche und Mercedes leisten können.“ Sein Blick streift die Fotos an der Wand. „Na ja, aus meinem Mund klingt das jetzt vielleicht wie Hohn.“

Er trottet in die Küche. Es ist Mittagszeit, Peter Zickenrott hat Hunger. Am Vorabend hat er beim Italiener lecker Pasta mit Meeresfrüchten und Tomatensauce gegessen. Das kocht er jetzt nach. Gut essen, das ist ja wohl das Mindeste, wo er schon seit Wochen so schlecht schläft. „Ich habe schon alle Plätze im Haus ausprobiert.“ Vielleicht müsste doch mal wer mit der Wünschelrute vorbeischauen. Oder aber er nimmt sich ein Zimmer in der Stadt. Vorübergehend.

Die Nudeln dampfen in der Schale. Herrlich! Ein Gläschen Rotwein dazu? Nein? Schade. Dann auch nur Wasser für ihn. Dann aber auf jeden Fall Blaubeertorte zum Nachtisch. „So leben“, sagt Peter Zickenrott, jetzt im bequemen Gartenstuhl auf der Terrasse, „sorgenfrei und in vollkommener Ruhe, davon träume ich.“

Nur Telefonberatung

Das Telefongeklingel reißt ihn aus den Träumen. Peter Zickenrott erhebt sich unwillig. „Natürlich ist diese Beratung für einen Profi nervig“, sagt er barsch, bevor er zum Hörer greift. „Ist doch immer das Gleiche.“ Er müht sich um Höflichkeit: „Ich schicke Ihnen jetzt den Bericht, Sie überweisen mir 550 Mark, und danach können Sie so oft anrufen, wie Sie wollen.“ Pause. In seiner Stimme ist mit einem Mal ein leichtes Zittern zu vernehmen: „Was denn, vorbeikommen? Nein, das müssen Sie nun wirklich nicht.“ Telefonberatung muss genügen.

Jede Ruhestörung, jedes Herausreißen aus dem gewohnten Trott kann schließlich eine neue Depression auslösen. Nur leugneten das die meisten Menschen. Peter Zickenrotts Mitgefühl ist echt: „Die glauben wirklich, dass es ihnen gut geht.“

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