Der tiefe Sturz der Absteiger: Trügerische Selbstwahrnehmung

Hannover 96 droht das Los vieler einstiger Erstligaklubs. Dem weiteren Abstieg ist man nach der Pleite gegen Nürnberg näher als dem Wiederaufstieg.

Kampf um den Ball

Spiel gegen den Ball: die Hannoveraner Haraguchi (l.) und Teuchert bemühen sich zu zweit Foto: dpa

Nein, ob Hannover 96 gerade wirklich auf dem Weg ist, lässt sich derzeit gar nicht sagen. Gut, 0:4 zu Hause gegen Nürnberg verlieren, das muss man erst mal hinkriegen. Und deswegen ist der Bundesligaabsteiger aus Niedersachsen vielleicht kein sicherer, aber durchaus ein nur wenig wackelnder Kandidat für die Aufnahme in den seltsamen Klub der Exspitzenvereine.

Es geht um das Phänomen, das man als RWE-Phänomen umschreiben könnte: Ein Verein, der mal ganz oben war, kickt nun in den Niederungen, und keiner weiß so recht, wer wann was falsch gemacht hat, dass es da kein Hochkommen mehr gibt.

Wenn RWE für Rot-Weiss Essen steht, ist es die Erinnerung an eine deutsche Meisterschaft 1955, an Spitzenspieler wie Helmut Rahn, Ente Lippens oder Manni Burgsmüller. Wenn RWE für Rot-Weiß Erfurt steht, dann ist es die Erinnerung an zwei DDR-Meisterschaften 1954 und 1955, an Kicker wie Jürgen Heun oder Thomas Linke.

RWE ist nur ein Kürzel für zwei frühere deutsche Topklubs, die nun in der vierten, der Regionalliga rumdümpeln. Andere heißen anders, sind vielleicht immer noch in der Dritten und nicht in der Regionalliga, doch immer ist es eine ähnliche Geschichte, die man sich nicht nur in Hannover ruhig mal durchlesen könnte: Niedergang und die strukturelle Unfähigkeit, wieder aufzustehen.

Falscher Blick nach oben

Es sind die Geschichten von FC Homburg und FC Saarbrücken, von Lok Leipzig und BFC Dynamo Berlin, von Energie Cottbus und FC Magdeburg, vom Wuppertaler SV und der SG Wattenscheid 09, von Alemannia Aachen und Rot-Weiß Oberhausen, dem SSV Ulm und dem FK Pirmasens, vom FSV Frankfurt und Kickers Offenbach, von Waldhof Mannheim und 1860 München, vom MSV Duisburg und dem früheren Bayer, heute KFC Uerdingen, vom Preußen Münster und dem 1. FC Kaiserslautern, von Eintracht Braunschweig und Hannover, äh, nicht ganz …

Die Frage, die einer Antwort harrt, ist die, die sich erstaunlicherweise so gut wie nie ein Absteiger aus der Ersten oder Zweiten Liga stellt: Wie verhindern wir, dass wir noch weiter durchgereicht werden? Man kann sich in dieser Saison in Nürnberg und Stuttgart – und, ja, auch in Hannover – umhören: Wiederaufstieg lautet das einzige Ziel, über das gesprochen wird. In der vergangenen Spielzeit war der Begriff auch beim Hamburger SV zu hören – vermutlich wollen die auch in diesem und im nächsten und im übernächsten Jahr das mit dem Wiederaufstieg in Angriff nehmen.

Vermutlich ist es genau die Schieflage zwischen der Selbstwahrnehmung und der objektiven Lage. Selbst sieht man sich stets als einen, der doch nur durch Pech, durch Fehlentscheidungen des Trainers oder Schiedsrichters oder nur durch Zufall abgestiegen, quasi mal gestolpert ist, obwohl man doch eigentlich nach oben gehöre. Objektiv aber hat man eine ganze Spielzeit scheiße gespielt, haben einem 34 Spieltage nicht genügt, um wenigstens so viele Punkte zu holen, dass wenigstens so ein Graue-Maus-Platz drin ist.

Und diese Fehlwahrnehmung, man sei doch was Besseres, nimmt man in die neue, die niedrigere Liga mit. Man hält sie sogar dann noch aufrecht, wenn die besseren Tage schon so lange vorbei sind, dass es kaum noch lebende Fans gibt, die das mit der Meisterschale damals bezeugen können.

In der vergangenen Saison war der 1. FC Köln bei Fans und Journalisten gleichermaßen unangenehm aufgefallen, als er den Aufsteigertrainer Markus Anfang kurz vor Saisonende wegschickte, um kurze Zeit später mit Achim Beierlorzer einen zu präsentieren, dem man Erste Liga zutraut. Ähnliches hatte Schalke 04 auch schon mal gegen Peter Neururer und für Aleks Ristic gemacht. Solche Maßnahmen sind nicht populär, aber sie leben doch zumindest von einer Grundrationalität, die lautet: Erste Liga ist nicht Zweite Liga, genauer: Eine vermutlich gegen den Abstieg in der Ersten Liga kickende Mannschaft braucht vielleicht eine andere Ausrichtung, einen anderen Trainer, einen anderen Kader als ein um die Meisterschaft spielender Zweitligist.

Das könnte zu den Lehren des Spiels von Hannover gegen Nürnberg gehören: Nicht nur der Pokal hat seine eigenen Gesetze, auch jede Liga hat ihre eigenen. Und wer's nicht glaubt, kann sich ja bei RWE erkundigen.

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Jahrgang 1964, Mitarbeiter des taz-Sports schon seit 1989, beschäftigt sich vor allem mit Fußball, Boxen, Sportpolitik, -soziologie und -geschichte

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