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Der sonntaz-Streit„Hungerstreik ist Wirklichkeit“

Es gibt eine Rechtsordnung, sagt Oberbayerns Regierungspräsident. Es gibt einen Hilferuf, sagt Pro Asyl. Sind Hungerstreiks Erpressung?

Protest der Flüchtlinge am Pariser Platz in Berlin. Bild: dpa

Der Regierungspräsident von Oberbayern hält Hungerstreik für Erpressung. „Letztlich kann nicht überzeugen“, schreibt Christoph Hillenbrand im Streit der Woche der sonntaz, „dass diejenigen, die in Deutschland den Schutz der hier geltenden Rechtsordnung suchen, für sich beanspruchen, außerhalb dieser Rechtsordnung behandelt werden zu wollen.“

Als im Sommer Flüchtlinge am Münchner Rindermarkt in den Hungerstreik getreten waren, um für bessere Lebensbedingungen für Asylsuchende zu protestieren, hätten Stadt und Land ständig das vermittelnde Gespräch gesucht - und, so Hillenbrand, „alles Vertretbare unternommen, um Leben wie Gesundheit der ,trocken Hungerstreikenden' zu schützen“.

Nachdem die Flüchtlinge ihre Forderungen in Bayern nicht durchsetzen konnten, zogen sie im Herbst nach Berlin und setzten ihren Hungerstreik bis vergangenen Sonntag am Brandenburger Tor fort. Währenddessen kam es in der Justizvollzugsanstalt Rosdorf zum Hungerstreik: Acht Sicherungsverwahrte protestierten für bessere Haftbedingungen. Und in der russischen Olympiastadt Sotschi nähte sich ein Mann den Mund zu, um gegen die Ausbeutung von Tagelöhnern zu demonstrieren.

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„In demokratischen Ländern, wo die Grundrechte ernst genommen werden, darf der Hungerstreik nicht Mittel der ersten Wahl sein“, findet Thomas Noll, der in Pöschwies den Strafvollzug leitete - dort war Anfang des Jahres ein hungerstreikender Insasse gestorben. Gefängnisbehörden dürften sich durch Hungerstreiks nicht manipulieren lassen. Auch die Juristin Brigitte Tag hält Nahrungsverweigerung für das „letzte Mittel“: Selbst wenn sie für einen urteilsfähigen Inhaftierten Ausdruck seines Rechts auf Selbstbestimmung sei.

Der Rechtsanwalt Hubert Heinhold schreibt zur sonntaz-Frage: „Man sollte nicht überlegen, welche Straftatbestände auf die Hungerstreikenden passen, sondern welche auf die, die deren Not zu verantworten haben.“ Der Pfarrer Bernhard Fricke schreibt: „Das ist keine Erpressung, sondern die Wirklichkeit“. Und Günter Burkhardt von Pro Asyl sagt: „Hungerstreik ist ein dramatischer Hilferuf und Ausdruck einer Verzweiflung.“

Die Streitfrage in der aktuellen sonntaz vom 26./27.Oktober beantworteten außerdem Ghlam Vali, der Hungerstreikender am Brandenburger Tor war, Hakan Tas von der Linkspartei, Elke Wooning, die für die Aufhebung einer Straßensperre hungerte, Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin, Uwe Bülau, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Strafvollzug in Sachsen-Anhalt, und die taz-Leser Tim Leuther und Paula Rösler.

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19 Kommentare

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  • C
    Charlene

    Die Worte des Regierungspräsidenten kann ich 100% unterschreiben. Einfach ignorieren die Aktion.

  • Manche Kommentatoren tun so, als ob das 'Recht' und die'Rechtsordnung' genau wie die Menschenwürde unantastbar wären. Dabei gilt auch und gerade hier: Nichts ist für die Ewigkeit. Sicher braucht man ein Rechtssystem, um bei Streitfragen eine Orientierung zu haben. Dennoch ist jede Rechtsordnung Veränderungen unterworfen. Und um diese zu erreichen, muss man etwas dafür tun. Hungerstreik kann ein gutes Mittel zum Zweck sein, v.a. wenn man sonst nichts hat, um auf seine prekäre Lage aufmerksam zu machen.

    • 6G
      688 (Profil gelöscht)
      @bouleazero:

      Doch leider wird diese "Rechtsordnung" niemals durch Vertrauen / Glauben in Kreuzchen auf dem Blankoscheck und Hungerstreik verändert werden - die gewählten Lobbyisten, dieser Welt- und "Werteordnung" im "Recht des Stärkeren" der "freiheitlichen" Marktwirtschaft, lassen sich nicht durch gute Worte in Demonstrationen, Forderungen und Mahnungen des "braven" Bürgers erpressen oder verarschen, denn sie sind die "Experten" für hierarchiesche Erpressung, Verarschung und Terror durch Systemrationalität!!!

  • B
    Bolle

    Die Leute haben Recht den Streik zu machen, wenn sie tatsächlich keinen anderen Ausweg sehen. Mich nervt nur wie der Protest der so genannten ''non-citizens'' abgelaufen ist:

     

    Die strenge ideologische Trennung zwischen ''non-citizens'' (Menschen ohne Pass oder Aufenthaltstitel) und ''citizens'' (Menschen, die Inhaber eines Passes oder Aufenthaltstitels sind),

    führen den Protest und die Solidarität ad absurdum. Die Schöpfer_innen dieser Ideologie tun gerade so, als ob jedeR potentielle Unterstützer_in ein paternalistisches Monster ist und sich daher nicht politisch äußern darf. Getrennte Plenarsitzungen mit solchen theoretischen Konstrukten hielten viele irgendwann davon ab, sich überhaupt am Protest zu beteiligen.

     

    Das ist in Hamburg zum Glück anders. Da gibt es mittlerweile breite Solidarität Stadtteil St. Pauli mit den Geflüchteten. Von Mitglieder von Kirchenverbänden, Vereinen, Künstler Fußballfans, Partei- und Gewerkschaftsmitglieder, sowie verschiedene Gruppen der linken Szene. Alle haben zusammen das gleiche Ziel. Eine Veränderung der europäischen Gesetzesgebung in Sachen Flucht und Asyl.

  • J
    Johnny

    > Der Pfarrer Bernhard Fricke schreibt: „Das ist keine Erpressung, sondern die Wirklichkeit“.

     

    Dümmer geht's nimmer: Wirklichkeit ist alles, ob da einer hungert um zu protestieren oder ob er Geiseln nimmt. Das rechtfertigt nichts, erklärt nichts und hilft nicht. Dumme Floskeln.

     

    > Und Günter Burkhardt von Pro Asyl sagt: „Hungerstreik ist ein dramatischer Hilferuf und Ausdruck einer Verzweiflung.“

     

    Das sagen die selben Leute allerdings auch wenn "unterprivilegierte Jugendliche" Leute tottreten oder Selbstmordattentäter sich in die Luft sprengen. Nicht alles, was Sie nicht machen würden, ist gleich Ausdruck von Verzweiflung oder ein Hilferuf.

     

    Der Staat darf sich nicht erpressen lassen, weder von Leuten, die anderen Leid antun, noch von Leuten, die sich selbst Leid antun. Darüber kann auch nicht verhandelt werden.

  • ““Der Rechtsanwalt Hubert Heinhold schreibt zur sonntaz-Frage: „Man sollte nicht überlegen, welche Straftatbestände auf die Hungerstreikenden passen, sondern welche auf die, die deren Not zu verantworten haben.“ „:

     

    Welche Mittel gäbe es denn, die afrikanischen Staaten zu mehr Verantwortungsbewusstsein gegenüber deren Bürgern zu bewegen? Und wie könnte man sie bestrafen?

    • B
      Balduin
      @Rosa:

      Zuverlässig wie immer verkennen Sie auch hier die Zusammenhänge.

      • @Balduin:

        Behaupten und Dummschwätzen kann jeder.

         

        Erklär einfach die „richtigen“ Zusammenhänge.

         

        Dummheit ist kein Zufall, sondern erfordert stetiges Training.

        • B
          Balduin
          @Rosa:

          "Behaupten und Dummschwätzen kann jeder."

          DAS kann wirklich jeder, da haben Sie recht. Seien Sie froh, sonst hätten Sie ja gar keine intellektuelle Grundlage für Ihre Äußerungen.

          • @Balduin:

            Zuverlässig entlarvst du deine Behauptung, du seiest im Besitz angeblicher Kenntnisse über die Zusammenhänge als Fake.

             

            Oder war das eher ein Merkmal deiner verwirrten Wahrnehmung?

            Dummheit vernebelt die Wahrnehmung bisweilen so stark, daß Betroffene es nicht mal selbst merken.

  • E
    Emil

    Für die einen ist es ein Hungerstreik, für die anderen die härteste Diät der Welt.

  • J
    Jan

    Erpressen uns dann die Menschen die auserhalb Europas leben uns nicht auch, wenn sie dort verhungern? Ich glaube nicht, dass diese Flüchtlinge ihr Leben riskieren würden, wenn es woanders nicht auch für sie lebensbedrohlich wäre. Sie zeigen mit ihren Protest in Deuschland nur die Folgen die wir weit weg besser ausblenden können.

  • M
    mama

    Abstimmen!

     

    Wir waren das Volk!

  • 6G
    688 (Profil gelöscht)

    ERPRESSUNG? - vs. Ausbeutung & Unterdrückung im "gesunden" Konkurrenzdenken des nun "freiheitlichen" Wettbewerbs um ...???

     

    „In demokratischen Ländern, wo die Grundrechte ernst genommen werden, darf der Hungerstreik nicht Mittel der ersten Wahl sein“, findet Thomas Noll"

     

    Tja, lieber Thomas, im "Rest der Welt" ist die konfusionierende Bildung zu Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche offenbar nicht so KAPITULATIV wie bei uns abgelaufen - "Demokratie", "Menschenwürde", "Menschenrechte", usw., da ist es doch wirklich nicht ernstzunehmen, wenn GRUNDRECHTE eher UNTERIRDISCH, oder im Sinne der KOLONIALEN Gesetzmäßigkeiten wahrgenommen werden!?

    • ED
      Erfahrung durch Kinder
      @688 (Profil gelöscht):

      Ich habe Kinder, die drohen oftmals die Luft solange anzuhalten, bis sie ein Eis, Spiel, oder sonstiges bekommen.

    • NK
      Nichtkapitulativ-konfusionierender Kommentar
      @688 (Profil gelöscht):

      klingt, als hätten Sie den Kommentar erst auf Englisch geschrieben und dann mit google-translate wieder ins Deutsche übersetzen lassen. Schöne Wortschöpfungen ("konfusionierende Bildung", Kapitulativ" etc.), inhaltlich bin ich mir nicht sicher ob ich richtig verstanden habe, denke aber mal sie sehen Hungerstreik NICH als Erpressung an, sondern die strukturelle Gewalt die gegen Flüchtlinge angewandt wird? Falls ja, volle Zustimmung.

      Dann sind jetzt, wie man im Italienischen so schön sagt, die Käfige geöffnet für die PI-News und Bildleser-Horden, um mit Ihren Ressentiments und die Hackordnung mit Zähnen und Klauen verteidigenden Kommentarschwemmen die TAZ zuzukleistern.

      • 6G
        688 (Profil gelöscht)
        @Nichtkapitulativ-konfusionierender Kommentar:

        Die "strukturelle Gewalt", also das "Recht des Stärkeren" und die konsum- wie profitautistische Bewußtseinsbetäubung im "freiheitlichen" Wettbewerb um "Wer soll das bezahlen?" und "Arbeit macht frei", ist den Menschen, der Länder aus denen sie VERSTÄNDLICHERWEISE flüchten, BERECHTIGT ziemlich verhasst. Bei uns angekommen, können sie WIEDER und ziemlich nutzlos nur alles / ihr Leben riskieren, weil die Gewohnheitsmenschen der westlichen Welt nur die eine "klare" / KONFUSIONIERTE Hierarchie anerkennen, indem sie vor dieser "freiheitlichen" Welt- und "Werteordnung" wiederholt und ausschließlich ihre KAPITULATION bezeugen (Kreuzchen auf dem Blankoscheck, die stumpf- und blödsinnige Forderungen, Demonstrationen und sonstige Mahnungen an die "Treuhänder" dieser Übertragung von "Verantwortung" nach sich ziehen) - "Denn man kann diese Welt ja NICHT verändern, weil es ja schon immer so war und sein wird, schon garnicht (Suppenkasper grüßt!) in weltweitem Sozialismus, weil ..."!?

         

        Und die taz spielt in diesem KOMMUNIKATIONSMÜLL keine ausserordentliche Rolle!!!

  • E
    Essenisfertig

    Ein Mensch ist mir egal,

    nur der Hunger ist real.

  • K
    Klarsteller

    Hungerstreikende stellen ihre Forderungen über die Rechtsordnung. Selbst wenn es (juristisch) keine Erpressung darstellt, ist es mindestens (un)moralische Nötigung.