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Der schöne Schmerz

Wenn sich gestandene Familienväter in hautenge Trikots zwängen, sich die Beine rasieren und die physiologischen Eckdaten ihrer Stars im Schlaf herbeten können, gibt es dafür nur einen vernünftigen Grund: die Tour de France

von FRANK DÖRING

Die Hände oben am Lenker, der Mund weit aufgerissen. Unterarme und Schultern sind längst taub. Zwölf Prozent hat diese Steigung, knapp zwei Kilometer ist sie lang. Schon nach wenigen hundert Metern brennen die Oberschenkel, zucken die Waden wie in einem Dauerkrampf. Hilft es, sich auf die Lippen zu beißen, um die Schmerzen zu verlagern? „Scheiße“, höre ich mich fluchen. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Aber wen interessiert das? Hier, auf diesem einsamen Stück Asphalt, den die sengende Sonne weich gekocht hat. Und mir geht’s ja noch ganz gut. Vergleichsweise.

„Mörder! Ihr verdammten Mörder!“, schrie Octave Lapize den Gründervätern der Tour de France in seiner Pein entgegen, als er sich 1910 die Rampen des 2.115 Meter hohen Tourmalet in den Pyrenäen hochquälte. Merklich moderater ist das Rennen seither nicht geworden. „Die Schmerzen, die wir aushalten müssen, kann sich ein normaler Mensch gar nicht vorstellen“, sagt Jan Ullrich 91 Jahre später.

Auch wenn die Fahrer inzwischen auf High-Tech-Geräten aus Karbon und Titan unterwegs sind, bleibt das Fahrrad eine ziemlich primitive Maschine, vorangetrieben nur durch Muskelkraft. Die Fron auf der 88. „La Grande Boucle“: 3.460 Kilometer in drei Wochen mit fünf Hochgebirgsetappen, zwei Einzel- und einem Mannschaftszeitfahren. Radsport ist die schwarze Galeere unter den herkömmlichen Leibesertüchtigungen. Und die Tour ist das Flaggschiff der Züchtigung.

Ist es diese Ästhetik des Leids, die jedes Jahr mehr als zwanzig Millionen Menschen an die Strecke treibt? Allein die steilen Kehren im mythischen L’Alpe d’Huez bevölkern am Tag der Etappenankunft eine Million Fans. Warum bloß? Wenn die Fahrer sich hier heraufschinden, sehen viele aus wie nach einer mehrwöchigen Geiselhaft. Seit Stunden arbeiten die ausgemergelten Körper im Grenzbereich. Wie an allen 21 Tagen der Tour. Die Plackerei ist abstrakt. Und sie wird es um so stärker, je mehr man darüber weiß.

Hardcorefans kennen die physiologischen Eckdaten ihrer Stars, als wären sie deren Hausärzte. An den Lagerfeuern der Tour schwadronieren die Experten über das Lungenvolumen eines Miguel Indurain, den Ruhepuls von Lance Armstrong oder die begnadeten Hebelverhältnisse von Jan Ullrich. Dabei hören sie sich an wie Kinder beim Autoquartett, die mit dem Hubraum eines Lamborghini protzen. Längst Legende sind die aberwitzig anmutenden Stoffwechselfakten der Radprofis. Bis zu 15.000 Kilokalorien verbrauchen sie an einem Arbeitstag im Hochgebirge.

Den Fans daheim schwant schon, dass ihre Helden danach wohl an den Tropf müssen, um sich die notwendigen Kohlenhydrate wieder zuzuführen. Denn knapp fünf Kilo Pasta verdrücken zu wollen, wäre reichlich absurd. Als Lance Armstrong voriges Jahr auf dem knapp vierzehn Kilometer langen Anstieg nach Hautacam die gesamte Konkurrenz paralysierte und sich das Gelbe Trikot holte, herrschte in den einschlägigen Internetforen tagelang Fassungslosigkeit. Mit 115 Pedalumdrehungen pro Minute soll der US-Boy zur Skistation in den Pyrenäen hinaufgewirbelt sein? „Unmöglich“, meinten nicht wenige Hobbyfahrer, die es selbst probiert hatten.

In kaum einer anderen Sportart häufen die Fans derart viel Faktenwissen an. Wen interessiert schon der Kalorienverbrauch des konditionell auf Normalniveau agierenden Fußballers Mario Basler? Und nirgends sonst ist der Grad der Identifikation mit den Heroen des Metiers so hoch wie hier. Gestandene Familienväter zwängen sich in die bunten Trikots ihrer Lieblingsteams, rasieren sich die Beine und messen ihren Körperfettanteil. Besonders harte Fälle unterziehen sich beim Sportmediziner einem Ergometertest und können anschließend ihre Laktatwerte mit jenen der Branchenführer vergleichen.

Umso mehr schmerzt es, wenn man im Juli nicht gerade einen Frankreichurlaub macht, sondern die Tour als Couch Potato absolvieren muss. Denn die Kompetenz des Fachpublikums findet bei den Fernsehkommentatoren nur in lichten Momenten ihre Entsprechung. Die Sportreporter der öffentlich-rechtlichen Sender sitzen zumeist mit dem Baedeker auf den Knien am jeweiligen Etappenziel und loben spätgotische Kirchen und malerische Weinberge am Wegesrand, während gerade ein kleiner Mexikaner im Zustand der Dehydration fast vom Rad fällt.

Überhaupt ist dramatisches Tremolo ihre Sache nicht. Zu durchaus bewegenden Live-Bildern vom Existenzkampf auf staubigen Landstraßen hören wir monotone Lageeinschätzungen, vorgetragen von einer belegten Stimme, die bei einem Dressurreiten gewiss sehr angemessen klänge.

Da kann sich das Personal bei „Eurosport“ emotional schon weitaus mehr öffnen. Hier wirkt der in Tourjahrzehnten ergraute Klaus Angermann, dessen Euphorieanfälle hinterm Mikrofon, gepaart mit unterhaltsamen Versprechern und dem Mut zu einfachsten Kalauern, inzwischen als Kult gelten. Und Angermann hat einen Assistenten, und das ist gut so. Der einstige Weltklasseprofi Tony Rominger liefert jene Fakten aus dem Umfeld der Fahrer, nach denen die Fans daheim dürsten. Er plaudert aus dem Nähkästchen, wenn auch nicht so ungebremst, dass wir erfahren würden, was in den Hotelzimmern der Teams abends tatsächlich abgeht.

Es gibt Leute, die stellen den Ton ab, wenn sie sich eine siebenstündige Livereportage von der Tour anschauen, weil sie die Moderationen nicht ertragen können. Geografisch Begünstigte schalten gleich um auf französisches oder Schweizer Fernsehen. Es sind eben die Bilder, die zählen. Und vor allem die Geschichten, die sie erzählen. Epen von den Helden, die jedes Jahr bei der Tour geboren werden. Marco Pantani war so einer. Der kleine Mann mit Glatze und Segelohren saß nach einem Sturz, als er bergab auf einen Jeep prallte und einen doppelten, offenen Beinbruch erlitt, fast schon im Rollstuhl. Zwei Jahre später kehrte er zurück, stürzte beim Giro d’Italia erneut schwer, als eine Katze seinen Weg kreuzte. Doch zur Tour danach war der „Elefantino“ wieder da und feierte in den Alpen zwei grandiose Etappensiege.

Auch Lance Armstrong kehrte auf wundersame Weise zurück ins Peloton: Im Herbst 1996 erkrankte er an Hodenkrebs, machte eine Operation mit anschließender Chemotherapie durch und fuhr bei der Tour 1999 bereits beim Prolog ins Gelbe Trikot. Oder Gilbert Duclos-Lassalle: Der Franzose war 1990 Wasserträger des Tourfavoriten Greg LeMond. Bei einer harten Etappe in den Pyrenäen entkam er dem Feld und fuhr zehn Minuten Vorsprung heraus. Er hatte seinen ersehnten ersten Etappensieg schon vor Augen, als der Mannschaftswagen die Order gab: „Warte auf Greg!“ Der amerikanische Kapitän hatte einen Defekt und brauchte jemanden, der ihm half, den Rückstand aufzuholen. Duclos-Lassalle musste kurz vor seiner Heimatstadt Pau kehrt machen, fuhr dem Feld entgegen, holte seinen Leader und fuhr die Pyrenäen noch einmal hoch. Wer könnte nicht nachvollziehen, wie groß die Enttäuschung des tapferen Franzosen war?

Jene Geschichten der Tour machen die Tortur ein wenig begreifbarer. Die Gesichter der Fahrer sind die Verräter. In ihnen spiegeln sich all jene Emotionen in krasser Form, die auch wir bestens kennen. Schmerz, Glück, Wut, Resignation sind auch bei der 88. Großen Schleife die einzigen Konstanten in einer Welt voller Ungewissheit.

Vielleicht noch fünfzig Meter. Der Pulsmesser piepst hektisch, längst fahre ich im roten Bereich. Noch vierzig Tritte, vielleicht sind’s auch nur noch dreißig. Wie von Ferne höre ich meine Lungen rasseln. Einfach absteigen und hinsetzen! Es wäre doch ganz einfach. Was mache ich eigentlich hier? Wieso gehe ich nicht einfach vor die Tür, spiele ein bisschen Fußball, anstatt hier bei über dreißig Grad im Schatten einen elend steilen Berg hochzukeuchen?

Endlich! Ich bin oben. Die Zunge klappert in meinem Mund wie ein trockenes Stück Holz. Aber ich bin stolz wie ein kleiner Junge, der beim Schulsport sein erstes Tor schießt. Wieder einmal die Schmerzen ignoriert, den schwachen Körper über seine Grenze getreten. Wie schön muss es eigentlich sein, einen mörderischen Berg wie den Col de Tourmalet hinaufzufahren? Der wäre knapp fünfzehn Kilometer länger als dieser Hügel hier. Ich mache das mal. Nicht mehr heute. Aber irgendwann.

FRANK DÖRING, 33, arbeitet als Redakteur bei der „Leipziger Volkszeitung“. Früher war er selbst ein erfolgreicher Radsportler an der Kinder- und Jugendsportschule. Nach vielen Jahren der Abstinenz steigt er mittlerweile wieder aufs Rad und spult Kilometer ab. Wenn auch längst nicht mehr so viel wie einst

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