■ Der russischen Heldenverehrung entsprang 1917 nach dem revolutionären Oktober der sozialistische „Neue Mensch“ – ein folgenreicher Mythos Von Christian Semler: Wenn Menschen Götter sein müssen
Heldenverehrung ist wie der Mythos vom „Neuen Menschen“ aus der Mode gekommen, wenigstens im linksaufgeklärten Milieu unserer Breitengrade. Aber der Schein trügt. Noch in der Vermarktung Che Guevaras oder in der Verklärung Ulrike Meinhofs scheint das Bedürfnis nach dem Heroischen durch, nach dem Anderen im Einerlei der bürgerlichen Gesellschaft. Rußlands Geschichte ist ein ideales Feld für die Archäologie linken Heldentums.
Unfaßlich, Galileo Galilei hat widerrufen. Eben dachten seine Getreuen noch, der Meister werde mit der gleichen Furchtlosigkeit der Inquisition begegnen, mit der er zuvor das kirchliche Weltbild erschütterte. Jetzt hält sich sein Lieblingsschüler Andrea angesichts dieser Kapitulation die Ohren zu. „Unglücklich das Land, das keine Helden hat“, ruft er Galileo zu. Dieser antwortet zunächst nichts. Dann erwidert er leise, „unglücklich das Land, das Helden nötig hat“.
Die Szene stammt aus Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ – eine Schlüsselszene. Der Autor verabscheut den Heroismus. Er konstatiert, daß zu seiner Zeit die Helden überhandnehmen und mit ihnen das Heldentum. In den „Flüchtlingsgesprächen“ klagt Ziffel, gefordert werde „die Selbstentsagung von einem Buddha, damit man überhaupt geduldet wird“. Aber der Weg zu einem gesellschaftliche Zustand, der solche Anstrengungen überflüssig macht, fordert nach Meinung Kalles, Ziffels Freund, äußerste Tapferkeit und größte Selbstlosigkeit.
Brechts Kritik ist auf die faschistischen Regime seiner Zeit gemünzt. Gegenüber den heldischen Anforderungen macht er die Interessen derer geltend, die als Rohmaterial des neuen, heroischen Zeitalters vorgesehen sind. Aber die Kritik hat noch einen weiteren, unangesprochenen Adressaten: die Sowjetunion. Während Kalle und Ziffel, die Emigranten, in Helsinki über eine Gesellschaft ohne anstrengende Tugenden dialogisieren, starrt ein paar Kilometer weiter, im sozialistischen Rußland, der Arbeiterheld von jeder Plakatsäule, werden die Heroen der Produktionsschlacht gefeiert. Ein Übermensch an Entschlußkraft und Klugheit geht dem Aufbau des Sozialismus voran: Stalin.
Müssen die Erbauer des Sozialismus heldenhaft sein? Oder reicht es, wie Brecht meinte, wenn sie nützlich sind? Wie soll man sich den Bewohner der sozialistischen Gesellschaft vorstellen? Als den alten Adam, der, endlich vernünftig geworden, sein und seiner Mitmenschen Leben erträglich einrichtet, indem er sein Schicksal „in seine eigenen Hände nimmt“ – oder als den neuen Menschen? Und wenn schon „Neuer Mensch“ – mußte es dann unbedingt ein Heros sein?
Karl Marx verweigerte sich jeder Pinselarbeit zur Ausmalung der kommunistischen Gesellschaft. Aber es gibt einige Elemente in seinem Werk, die uns vom künftigen Menschen künden. Sprudeln erst die Quellen des gesellschaftlichen Reichtums, sind erst die Auswirkungen der Arbeitsteilung rückgängig gemacht, so steht der allseitigen Entwicklung des Menschen zum Gattungswesen nichts mehr im Weg. Er darf dann Jäger, Fischer oder kritischer Kritiker sein, ganz wie es ihm beliebt. Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums löst die menschliche Selbstentfremdung auf, ermöglicht die Aneignung des menschlichen, das heißt des gesellschaftlichen Wesens durch den Menschen.
Wo Marx, selten genug, vom Heroismus spricht, sind damit kämpfende Kollektive gemeint, die Pariser Kommunarden etwa im „Bürgerkrieg in Frankreich“. Auch sich selbst und seinen Gesinnungsgenossen mutete er keine heldischen Taten zu. Die Kommunisten sollten, ganz im Geist der Aufklärung, der Bewußtwerdung der Ausgebeuteten nachhelfen. Die Revolutionen benötigten keine Helden, sie vollzögen sich unter dem Druck der kapitalistischen Widersprüche. Der Kapitalismus selbst sei es, der den Ausgebeuteten ihre religiösen oder sonstigen Illusionen austreibe. Er ließ ihnen keinen anderen Ausweg als die Revolution.
Wie konnte es geschehen, daß der gänzlich unheroische Duktus des Marxschen Denkens in den sowjetischen Heldenkult mündete? Schon zur Zeit von Marx haben einige der großen Vorläufer des „Roten Oktober“ einen andere Vision vom Weg in die sozialistische Gesellschaft entwickelt. Unter ihnen war Nikolai Tschernyschewski, der einen profunden Einfluß auf Lenin ausübte, sicher der Wichtigste. Der viele Jahre nach Sibirien Verbannte wurde zum Idol der russischen Jugend im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts, vor allem wegen seines Romans „Was tun?“.
Er erzählt die Geschichte eines jugendlichen Freundeskreises, der sich in all seinen Handlungen von konsequenter Vernunft leiten läßt. Die Protagonisten setzten sich ein für ihre Mitmenschen und ihr Ziel, eine Art selbstverwalteten kooperativen Sozialismus. Nicht aus Altruismus, sondern aus wohlverstandenem, die Belange des Mitmenschen reflektierenden Egoismus. Sie, die sich für das Gemeinwohl opfern, lehnen die Idee des Opfers ab. Aber es sind einsame, oft unverstandene Vorkämpfer: Heroen. Der Verfasser schreibt über sie: „Es gibt ihrer Wenige, aber durch sie blüht das Leben wieder auf. Ohne sie würde es ersticken. Wenige gibt es, aber sie ermöglichen den Menschen zu atmen, ohne sie würden die Menschen ersticken... Es ist die Blüte der besten Menschen, das sind die Beweger der Beweger, das ist das Salz des Salzes der Erde.“
Tschernyschewski bezeichnet Heroen wie Rachmetow ausdrücklich als „Neue Menschen“. Damit antwortet er auf das Dilemma der utopischen Sozialisten (und auch das von Marx), die auf die Frage des Weges zu einer neuen Gesellschaft und zum neuen Menschen gar keine oder deterministische Antworten gaben. Die „Beweger der Beweger“ sollten es sein, die die bewegungslose Masse mitrissen – und sei es nur für einen historischen Augenblick. Ganz anders als Karl Marx hat deswegen der russische Sozialrevolutionär Pjotr Lawrow die Pariser Kommune interpretiert: als Anstrengung einiger Revolutionäre, die dort den Keim für eine Revolution der Massen eingesetzt hätten.
Obwohl die Bolschewiki sich als Teil der internationalen Sozialdemokratie verstanden, war ihr Verständnis vom revolutionären Prozeß und von der Rolle des Vorkämpfers in ihm der russischen Tradition mehr verhaftet als der westlichen mit ihrem Glauben an die Geschichte als Demiurg der Revolution. Lange Zeit bestimmten sie den Inhalt der Revolution unter Führung des Proletariats als bürgerlich-demokratisch.
Nach dem Sieg der Oktoberrevolution aber stand die Frage, welche Elemente des Kommunismus in einer Gesellschaft verwirklicht werden könnten, die für ihn nach „klassischer“ Definition noch nicht reif war. Damit geriet der „Neue Mensch“ ins Blickfeld nicht nur literarischer oder theoretischer Produktion, sondern praktischer Politik. Lenin sah im Kriegskommunismus keine Brücke zur klassenlosen Gesellschaft. In der Sphäre der materiellen Produktion wie in der der öffentlichen Verwaltung konnte es sich nur darum handeln, erste Bildungselemente des Kommunismus zu verankern: die Subotniks der freiwilligen Arbeit zum Beispiel.
Das eigentliche Schlachtfeld für die Frage „Aktualität des Kommunismus“ bildeten die Literatur und die Künste. Leo Trotzki, nicht nur ein bedeutender politischer Denker und Stratege, sondern auch ein glänzender Literaturkritiker, packte das Problem 1923 in seiner Schrift „Literatur und Revolution“ beim Schopf. Eine proletarische Kunst wird es nicht geben, weil die Zeitspanne der proletarischen Diktatur zu kurz für ihre Entfaltung sein wird, zu sehr bestimmt vom Kampf um Leben und Tod zwischen der Revolution und ihren Feinden. In der klassenlosen Gesellschaft werde jedoch kein Raum mehr sein für spezifisch proletarisches Schöpfertum. Statt dessen gebe es „den revolutionären Menschen“, der nach seinem Ebenbild die neue Generation formt. Warum sollte diese Kunst nicht schon bald kommen, und zwar als die Kunst jener jungen Generation, „die in der Revolution geboren ist und die sie auf ihren Schultern vorwärtsträgt“?
Das melodische Pathos, das Trotzki hier anschlägt, steigert sich, wenn er auf die Entfaltungsmöglichkeiten des aus dem heutigen Revolutionär hervorgegangenen „Neuen Menschen“ zu sprechen kommt. Er proklamiert einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus. „Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer, und seine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“ Der Mensch wird fähig sein, „den Übermenschen zu schaffen“.
Den Übermenschen? „Wenn man so will“, sagt Trotzki, den Begriff nutzend und sich gleichzeitig von ihm distanzierend. Wie kommt der „Übermensch“ Friedrich Nietzsches, des geschworenen Feindes des Sozialismus, in das Werk eines sozialistischen Theoretikers – und das gleich an mehreren Stellen?
Trotzki greift hier nicht, etwa zum Zwecke der Pointierung, auf eine scheinbar entlegene Metapher, auf die des Übermenschen eben, zurück. Er bewegt sich im Zentrum des russischen Geisteslebens, selbst desjenigen linker Provenienz. Die Idee des Übermenschen hatte im vorrevolutionären russischen Marxismus tiefe Wurzeln geschlagen, sich mit den heroischen Vorstellungen der russischen Intelligenz amalgamiert.
Der Übermensch näherte sich – in seiner Ablehnung der Schwächlichkeit, des Mitleids und der Nächstenliebe, in seiner Kultivierung der herrischen, sich selbst in die Zukunft entwerfenden Persönlichkeit und in seiner Verachtung der „Herde“ – immer mehr dem „Neuen Menschen“ an, wie ihn die utopischen Sozialisten oder Tschernyschewski entworfen hatten.
Selbst die Idee der Menschenzüchtung, von Nietzsche „denen ins Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdigen Fragen haben“, findet ihr Echo noch in Trotzkis „Literatur und Revolution“, einem Werk, das so sehr dem aufklärerisch-utopischen Denken verpflichtet ist. Der „Zarathustra“ Nietzsches ist Pate bei der Geburt des „Gotterbauertums“ des späteren Volkskommissars für Aufklärung und Protektors der Künste, Anatoli Lunatscharski. Vor allem aber ist er die treibende Kraft der Dichtung Maxim Gorkis.
Für Lunatscharski steht der Mythos des schöpferischen Menschen im Vordergrund. Er will eine Religion begründen, die dem Marxismus und damit dem Proletariat die verschlossene Welt der Ekstase und des Enthusiasmus eröffnen soll. Gorkis frühe Helden sind Outlaws, das Leben der Masse verachtend. Sie folgen ihrem individuell-heroischen Gesetz und scheren sich einen Dreck um den jämmerlichen Zustand der russischen Gesellschaft. Nietzsches Übermensch ließ sich den unterschiedlichsten Bedürfnissen nach starken Persönlichkeiten anpassen, denn sein Zarathustra wird nur ex negativo gezeichnet: in dem, was er verwirft.
Die Adaption stieß nur auf eine große Schwierigkeit: den Aristokratismus Nietzsches, seine Verachtung des „Herdenmenschen“. Nach seinem Übergang auf marxistische Positionen versuchte Gorki dieses Problem dadurch zu lösen, daß er das Proletariat in der Person jedes einzelnen Arbeiters zum potentiellen Helden erklärte.
Der „Übermensch“ war jetzt nicht mehr durch einen Abgrund von der „Herde“ getrennt, sondern überragte seine Klassengenossen nur um Haupteslänge, jeder Revolutionär konnte und durfte ihm nacheifern. Seine Funktion als Wegbereiter, Promotor und Heros, als Ausnahmemensch behielt er bei.
Lassen wir uns nicht täuschen von der Ablehnung des „Gotterbauertums“ seitens Lenins und der Mehrheit der bolschewistischen Führer. Lenins Polemik in „Materialismus und Empiriokritizismus“ richtet sich gegen den philosophischen Idealismus der „Gotteserbauer“. Eine Kritik an Nietzsches „Übermenschen“ und seiner russischen Adaption wird man vergeblich bei ihm suchen. Zu wahlverwandt ist das Selbstverständnis der bolschewistischen Führung, ihr heroischer, avantgardistischer Anspruch.
Später, nach dem Sieg der Oktoberrevolution, wird im Verhältnis der Partei zu den Massen, in der Wechselbeziehung zwischen „Bewußtheit“ und Spontaneität, der Einfluß Nietzsches manifest werden. Die Masse steht für das dionysische, chaotische Element, die Partei für das vernunftgeleitete, apollinische. Aus ihrer Synthese wurde bei Nietzsche die griechische Tragödie geboren, im frühen Sowjetstaat erwächst aus ihr nach einem langen, konfliktreichen Bildungsprozeß der proletarische Held.
Mit Stalins Triumph Ende der zwanziger Jahre, mit dem „Aufbau des Sozialismus in einem Land“, vor allem aber mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland wird Nietzsche als Philosoph in der Sowjetunion zum Tabuthema. Er gilt als Prophet des bourgeoisen Individualismus und, schlimmer noch, als ideologischer Wegbereiter des Faschismus. Aber die Flammen dieses Scheiterhaufens nähren sich nicht aus dem gut getrockneten Material des Rationalismus. Nietzsches Verbrennung erfolgt zu einer Zeit, wo ein verdeckter, aufs äußerste vergröberter Nietzscheanismus seinen Siegeszug antritt. Jetzt herrscht der „Wille zur Macht“ sans phrase.
Die Vergottung Stalins speist sich sicherlich aus vielen Quellen, auch aus denen der religiösen Orthodoxie. Stalin ist nicht „Herrenmensch“, sondern gütiger Vater und Lehrer. Aber er ist gleichzeitig der übermenschliche Genius, ausgestattet mit dem unerschütterlichen, „stählernen“ Willen.
Der Wille ist es, nicht die Vernunft der aufklärerischen Utopien, der die Menschen zu heroischen Taten anspornt. Eine vitalistische Grundstimmung durchzieht die künstlerische Produktion wie die Alltagskultur. Sie prägt sich den Menschen als sozialistische Lebensweise ein. Ein neuer, heroischer Mensch zu werden ist nicht nur plakative Aufforderung, die den individuellen Biografien äußerlich bliebe. Diese Aufforderung wird zur verinnerlichten Norm. Aber doch nicht ganz. Die gigantischen Projekte zur Umgestaltung des Menschen und der Natur konnten den tagtäglichen Mangel in der Gesellschaft nicht zudecken, der Fetisch Zukunft konnte die Vergangenheit nicht auslöschen. Neben der heroischen lichten Welt, über der der Übermensch Stalin waltete, und seiner Gegenwelt, dem Gulag, existierten noch Zwischenwelten, in denen man „bolschewistisch sprach“, ansonsten aber dem Alltagsverstand traute.
Brecht sollte recht behalten. Das heroische Zeitalter erwies sich als zu anstrengend. Und mit Stalins Götzenbild zerbarst auch die Statue seines heimlichen Mentors. Um wiederaufzuerstehen, wie es der Meister in seinem Gleichnis von der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen“ gelehrt hatte?
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