: Der raue Ton in Frankreichs Mitte
aus Lille und Montauban DOROTHEA HAHN
„Ihr habt mich zerzaust“, sagt Lionel Jospin, als er auf der Bühne angekommen ist. Ein Assistent zupft an seinem weißen Hemdkragen. Versucht, ihn unter den schwarzen Anzug zurückzuschieben. Der Kandidat, in Personalunion Premierminister, redet unbeirrt weiter: „aber meine Gedanken sind klar. Nach fünf Jahren, in denen ich manchmal schweigen musste, kann ich meine Hoffnungen jetzt befreien.“ Die 13.000 Sozialdemokraten zu seinen Füßen jubeln. „Jos-pin Pré-sident“, skandieren sie. Dazu schwenken sie Fähnchen mit derselben Aufschrift.
Der weißhaarige 64-Jährige mit dem angestrengten Lächeln hat sich an diesem Tag in der nordfranzösischen Stadt Lille durch ein 220 Meter langes Spalier vorgearbeitet. Tausende Hände haben an ihm gezerrt. Meterhohe Lautsprechertürme haben ihn mit Jean-Jacques Goldmanns Orchesterstück „Ensemble“ beschallt. Sechs Großleinwände haben das Gedränge bis ans hintere Ende des weißen Zeltes übertragen. Parteijugendliche haben den Blick auf rot beschriftete weiße T-Shirts freigegeben. „Der hält, was er verspricht“, steht darauf.
Jospin ist nach fünf Jahren als Premierminister unumstrittener Spitzenmann der Sozialdemokraten. Wenige Tage, nachdem er in einem „Fax an die Franzosen“ erklärte, dass er Staatspräsident werden möchte, um das Land „modern, gerecht, aktiv, sicher und stark“ zu machen, erhielt er die Rückendeckung seiner Partei. Mehr als 99 Prozent der Mitglieder stimmten für seine Kandidatur. Jospin beeilte sich, öffentlich festzustellen, er selbst sei zwar „von der Inspiration her Sozialist“. Aber sein Programm sei das nicht. Das sei „modern“ und „in der Mitte“ angesiedelt.
In Lille, sozialdemokratische Hochburg des Nordens, wo die Partei das größte Zelt seit Menschengedenken für Jospins „Meeting“ aufgestellt hat, sind die Anknüpfungen an Traditionen verschwunden. Ein einziges Mal benutzt der Kandidat das Wort „Genossen“. Für das Publikum ist er „Jospin“. Kaum jemand kommt auf die Idee, ihn „Lionel“ zu nennen. Schon gar nicht „Genosse“.
Am Eingang des Zeltes nehmen sozialdemokratische Ordner den hereinströmenden Menschen die Flugblätter von streikenden Krankenpflegern ab. Sie knüllen die blauen Papiere mit dem Text – „Herr Premierminister, wir brauchen mehr Personal“ – zusammen und stopfen sie in Mülltüten aus Plastik. „Das ist beleidigend“, behauptet ein Ordner, „wer will, kann das draußen lesen. Aber nicht bei bei uns.“
Noch weiter auf Abstand wird eine Gruppe von „Sans Papiers“ – „illegale“ Einwanderer in Frankreich – gehalten. Polizisten haben sie mehrere hundert Meter weiter auf einer Straßenkreuzung eingekesselt. Als Jospin vor fünf Jahren kandidierte, standen die „Illegalen“ im Mittelpunkt seiner Kampagne. Damals lud der Wahlkämpfer die Sprecher der Bewegung auf die Bühne ein und versprach „Papiere für alle“. Jetzt dringen die Rufe der Demonstranten, „Jospin – wir wollen keine Versprechen, sondern Papiere“, nicht bis zu der sozialdemokratischen Großveranstaltung vor.
Im Inneren des Zeltes ist die Stirnseite mit Jospins neuem Slogan dekoriert: „Présider autrement“. So steht es in weißer Schrift auf braunem Grund. Jahrelang hat der Sozialdemokrat das Land einvernehmlich mit seinem konservativen Gegenspieler geführt. Was er künftig „anders“ machen will, ist selbst für Sozialdemokraten schwer auszumachen. Der Kandidat sagt, dass es mit ihm als Präsident keine Obdachlosen in Frankreich mehr geben werde und zusätzliche 900.000 Arbeitsplätze. Aber das sind Versprechungen. Jospins zentrales Wahlkampfthema ist identisch mit dem seines Gegenspielers Jacques Chirac: die „Unsicherheit“ im Land, die Zunahme an Delikten und Gewalttaten und der Mangel an Zivilcourage. Da haben beide konkrete Vorstellungen, propagieren ein „großes Ministerium für die innere Sicherheit“, mehr Polizisten und mehr Strenge gegenüber jugendlichen Straftätern. Beide liegen derzeit in Umfragen etwa gleichauf.
Stimmung im Zelt in Lille kommt nur auf, wenn Jospin den anderen erwähnt. Kaum sagt er „Chirac“ – wird minutenlanges Zischen und Pfeifen laut. Dazwischen ertönt der Ruf: „Supermenteur“ – Superlügner. So heißt Jacques Chirac in einer von täglich mehr als zwei Millionen Menschen geschauten Satiresendung im Fernsehen. Jospin, der Premierminister, hat die ungeklärten Finanzaffären zur „alleinigen Sache der Justiz“ erklärt. Jospin, der Kandidat, muss kein einziges Wort darüber verlieren. Die Affären sind das beste Argument seiner Anhänger.
Auch Jacques Chirac, seit sieben Jahren Staatspräsident spricht nicht über die Finanzaffären, in die das einst von ihm geführte Rathaus von Paris und seine Partei RPR verwickelt sein sollen. Aussagen gegenüber Untersuchungsrichtern hat er stets abgelehnt. Weil er als Staatspräsident die Oberaufsicht über die Justiz ausübe, dürfe er das nicht, lautet seine Begründung. Dafür hat Chirac die Rückendeckung des Verfassungsrats. Aber den Verdacht der Bestechlichkeit wird er nicht los.
Als pünktlich zum Wahlkampfbeginn ein langjähriger Republikflüchtling wieder in Paris auftaucht und Chirac schwer belastet, und als dann noch ein „Enthüllungsbuch“ erscheint, spricht der Staatspräsident von „Gerüchten“ und „übler Nachrede“. Sogar die Begriffe „extremistische“ und „faschistische Methoden“ benutzt er.
Der 69-Jährige ist einziger Kandidat der Neogaullisten. Anders als vor sieben Jahren, als sein Parteifreund Balladur gegen ihn antrat und ihn beinahe die Mehrheit gekostet hätte, genießt Chirac den Bonus des Amtsinhabers. Auch wenn ihm viele übelnehmen, dass er als Staatspräsident zu zurückhaltend war, dass er Frankreichs Stimme in der Welt kein Gehör verschaffte und dass er mit der Parlamentsauflösung von 1997 den Linken an die Regierung verhalf.
Stark machen den Kandidaten auch Zahlen aus dem Innenministerium der Jospin-Regierung. Sie belegen, dass in den vergangenen fünf Jahren die Straffälligkeit um 16 Prozent zugenommen hat, nachdem sie unter der vorherigen konservativen Regierung von Premierminister Juppé statistisch zurückgegangen war. Ein weit verbreitetes Gefühl der Franzosen belegt die Statistik zusätzlich. Sieben Jahre nachdem Chirac antrat, den „sozialen Bruch“ zu bekämpfen, ist jetzt das „Bürgerrecht auf Sicherheit“ dran. Wie damals beruft Chirac sich auf die politische Mitte. Sein neuer Slogan – „La France en grand. La France ensemble“ – greift Stichworte von beiden Seiten auf. Die „Größe“ von den Gaullisten und das „Gemeinsame“ von den sozialen Bewegungen.
In Montauban, 40.000- Einwohner-Stadt im Südwesten Frankeichs, war die Sicherheitsstrategie bereits erfolgreich. Nach beinahe vier sozialdemokratischen Jahrzehnten wählten die Montalbanais bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr eine rechte Politikerin an die Spitze des Rathauses. Wenige Monate zuvor waren in der Silvesternacht reihenweise Autos in einer Vorstadt abgebrannt. In Straßburg, Avignon und anderen französischen Städten entschieden die Bürger im März 2001 ähnlich.
„Sie sind eine Politikerin des Frankreichs von unten, eine Frau der kommenden neuen Generation“, lobt Chirac seine Parteifreundin in Montauban. Draußen vor dem Eingang des Rathauses haben sich elegant gekleidete Rentner versammelt. „Chi-rac Pré-sident“, rufen sie, als ihr Kandidat auf die Straße tritt. 50 Meter weiter skandieren Arbeiter in weißen Kitteln einen anderen Slogan: „Du bou-lot“ – Jobs – verlangen sie. Ihre Kabelfabrik „Valeo“ soll demnächst ins Billiglohnland Tunesien übergesiedelt werden. Zwischen den Jubelnden und den Demonstranten halten Polizisten einen Sicherheitsstreifen frei.
Der Kandidat Chirac zögert nicht lange. Er stürmt mit ausgestreckter Hand auf die Arbeiter zu. Von der „Müdigkeit“ und der „Abgenutztheit“ des Staatspräsidenten, die Jospin bemerkt haben will, ist nichts zu spüren. Chirac schüttelt die Hände, lässt sich „die Lage erklären“.
Was der Präsident gesagt habe, will eine französische Journalistin von einem der künftigen Arbeitslosen der Kabelfabrik wissen. Der zuckt bloß die Schultern. „Das ist doch egal“, sagt er in die Kamera, „Chirac ist ein Lügner.“
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