: Der offene Blick
Klaus Theweleit umkreist in drei Essays 1968, was daraus wurde und wie sich Massen in Medienbilder verwandeln ■ Von Stefan Reinecke
In einem Film von Nanni Moretti aus den 90ern schaut sich Nanni Moretti im Kino einen italienischen Film an. Dort sitzen zwei Paare um die 50, bitter gewordene 68er, die klagen: Wir haben alles falsch gemacht, die falschen politischen Parolen gerufen, an die falschen Helden geglaubt und unsere Ehen ruiniert. Dann steht Nanni Moretti auf und sagt: Ihr habt die falschen Parolen gerufen und die Ehen zerstört – ich nicht. Redet nicht in meinem Namen.
Ein schöne Szene. Sie mag einem bei der Lektüre dieser drei Essays in den Sinn kommen: Der erste erzählt von der Erfahrung der Befreiung der Körper und Köpfe, die 1968 geschah – und der RAF. Der zweite beschreibt die Veränderungen der Sexualität seitdem. Der dritte macht sich, ausgehend von Canettis Begriff der Masse, daran, die Verwandlung der Masse ins Serielle zu analysieren. Drei Themen, verknüpft durch das gemeinsame Interesse, die Brüche und Fortschreibungen zwischen 1968 und heute zu sondieren.
„Bemerkungen zum RAF-Gespenst“ erzählt von dem bohemienhaften SDS-Gruppenleben in den 60ern, wie sich dieses in abstrakte Kampagnenpolitik verwandelte und seinen lebendigen Kern einbüßte. Der chaotische Versuch, Politik und Privates neu zu begreifen, mündete in die starren Hierarchien der K-Gruppen. In diesem Zerfallsprozeß entstand die RAF, die den subkulturellen Impuls in ihr komplettes Gegenteil verkehrte. „Was in den 60ern erobert worden war – Straße, Öffentlichkeit, Offenheit und Sprachvielfalt nach allen Seiten –, verschwand in ein, zwei, drei Jahren im Geschichtsgully.“
So weit, so bekannt. Theweleit erzählt diese Geschichte noch einmal, um den Medienhype, der die RAF 1997 gern als unfaßbares Böses darstellte, zu kontrastieren: durch Erfahrung. Aus den Briefen der Gefangenen erzählt er ihre Binnenperspektive, die Art, wie sie sich gegenseitig terrorisieren: „du weiß nicht was ein befehl ist“ (Gudrun Ensslin an Ilse Stachowiak). Die Gefangenen inszenierten sich als ein Kollektiv-Körper, der jede Abweichung unter Straf- und Todesdrohung stellt. Die RAF endete als Wiederkehr der deutschen Identitäts- und Opferlogik. Sie war nichts Unfaßbares, Exterritoriales (wie angeblich die Nazis, die über Deutschland kamen), sondern die Revision der subkulturellen Offenheit der 60er und die Wiederholung der Muster der faschistischen Eltern, gegen die sie angetreten war. Mag sein, daß diese Grundthese nicht neu ist – Theweleits genauer, selbstreflexiver, einfühlender und kühler Blick darauf schon.
Zu den Ursprungserlebnissen von 68 ff. gehörte die Erfahrung der Masse: die lebendige, spontane Eroberung der Straße. Das war das Gegenbild zu den faschistischen Blöcken, der formierten Masse, dem Heer. Die Masse, die Canetti beschrieb, ist heute eher verschwunden. Die Arbeitslosen sind individuelle Schicksale, keine wahrnehmbare Menge. Auch rot- grüne Machtwechsel finden im Saale statt, auf Pressekonferenzen, ohne Echo der Straße. Aber nichts verschwindet einfach spur- und folgenlos: nicht die Elternmuster aus den Köpfen von RAF-Kadern, nicht die Idee der Masse aus dem öffentlichen Bewußtsein.
Die Masse, so Theweleit, ist mediatisiert worden. Was früher auf der Straße geschah, geschieht heute eher im TV. Diese neue, mediale, serielle Massenbildung ist ein zwiespältiger Prozeß. Sie kann geschehen, indem, wie bei der Diana-Trauer, Millionen sich selbst als Anhängsel des TV empfinden und, uniformiert mit einer Rose in der Hand, zu serialisierten Medienwesen werden. Aber Theweleit ist nicht darauf aus, vom Feldherrnhügel bürgerlichen Subjektbewußtseins herab nach falschen Massenbildungen zu fahnden. So nimmt er auch die neuen Medien, mit Marshall McLuhan im Gepäck, vor den üblichen kulturkonservativen Verdächtigungen in Schutz. Medien sind nichts Übles; sie sind technische Erweiterungen des menschlichen Körpers; ja man kann Körper ohne die jeweilig historisch verfügbaren Medien noch nicht einmal verstehen. Mit der Brücke Körper–Medien ist der Bogen zurück zur Masse geschlagen: Hier wie dort formt sich Körperbewußtsein.
An die Stelle der Masse ist das Serielle getreten. In den „leeren Schweppes- und Coladosen, mit denen die Teens ihre Regale füllen“ entdeckt Theweleit antiautoritäre Gesten. Die Klamotten und Dingwelt-Insignien, die seriellen Designer-Codes, mit denen die Teens ihre Identität ausstaffieren, spielen heute vielleicht eine ähnliche Rolle wie die Erfahrung der Masse früher: als Teil einer sozialen Gruppe erkennbar zu werden.
Die Lücke, die zwischen Masse und Seriellem klafft, ist offenbar. Masse ist auf Sinn aus. Ohne verbindendes Ziel existiert keine Masse, auch nicht auf dem Fußballplatz. Das Serielle hingegen ersetzt Sinn durch leere Zeichen. Eine Campbell-Dose ist eine Campbell-Dose ist eine Campbell- Dose. Das hat auch sein Gutes: „die Entleerung vom Ideologie- Schrott, vom Partei-Schrott, vom Individual-Schrott & die Verwandlung von Schrott in Kunst“. So entdeckt Theweleit im Mehrheitskultur gewordenen Warhol- Programm ein Echo des geliebten 60er-Jahre-Aufbruchs: antibürgerlich, antidoktrinär, offen.
„Ich mag das Serielle ,im Prinzip‘ – geliebt habe ich das Aufblühn des Individuums in den Massen“, schreibt Theweleit. Die Vergangenheit – 68, RAF, etc. – ist in diesem Buch das Nahe. Wenn es um die Love-Parade-Masse und das Teenager-Serielle geht, klingt der Sound eher ethnologisch. Interessiert, aber fern. Gerade weil Theweleit selbstreflexiv um das eigene Erfahrungs-Ich herum schreibt, ist dieser Bruch sichtbar. Es ist der offene Blick, der dieses Buch vor nostalgischen oder bitteren Obertönen bewahrt.
Klaus Theweleit: „Ghosts“. Stroemfeld Verlag, Frankfurt/ Main 1998, 256 Seiten, 28DM
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