Der lange Abstieg des Guido Westerwelle: Der Anti-Grüne
Er war immer ein Angreifer. Den Wechsel zum Staatsmann und Regierungsparteichef hat er nie geschafft. Letztlich ist Guido Westerwelle an sich selbst gescheitert.
Für einige Stunden scheint alles weit, weit weg zu sein: Die Rücktrittsrufe aus der eigenen Partei, die verlorenen Landtagswahlen, die Kritik an seiner Libyenpolitik. In Peking, fast 8.000 Kilometer von Berlin entfernt, kann der Bundesaußenminister am Freitag seinem Hang zum Pathos nachgeben: "Die Freiheit der Kunst ist immer auch Gradmesser für Menschlichkeit einer Gesellschaft." Hinter ihm sitzen Politbüromitglieder der KP Chinas und hören artig zu.
Doch während er in China Gemälde von Andy Warhol angucken muss, telefoniert sich seine Partei daheim bereits seinen Nachfolger im FDP-Vorsitz zusammen. In seiner Abwesenheit gingen ihm auch die letzten Parteifreunde von der Fahne, die ihn, teils aus Kalkül, teils aus Verbundenheit, lange gestützt hatten.
Am Sonntag dann um 16.28 Uhr die Eilmeldung: Westerwelle werde nicht mehr für den Vorsitz der Partei kandidieren.
Nach taz-Informationen wird der nächste FDP-Vorsitzende Philipp Rösler heißen. Es war alles zu viel: die bei 5 Prozent wie festgezurrt wirkenden Umfragewerte der Partei; die Gewissheit, dass selbst das Außenamt Westerwelle nicht mehr populär machen wird; die krachend verlorenen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg; zuletzt noch die Irritation über einen Außenminister, der eine Flugverbotszone über Libyen zunächst als "Option" bezeichnet, sich aber der Stimme enthält, als es im UN-Sicherheitsrat zum Schwur kommt.
Wie wurde aus dem strahlenden Sieger, dem am Wahlabend im September 2009 tausend Anhänger "Guido, Guido!" entgegenriefen, in rasend kurzer Zeit ein Mann, den seine Partei lieber heute als morgen entsorgen will? Vordergründig betrachtet scheinen die Gründe für Westerwelles Scheitern klar: Das Steuersenkungsversprechen, mit dem der Wahlkämpfer 2009 so viele Unzufriedene zum Kreuzchen für die FDP bewegte, konnte er nie einlösen. Es ist zerstoben an der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise, deren Folgen für den Bundeshaushalt Westerwelle partout nicht erkennen wollte.
Präsentation ist alles
Jedes andere Ziel hatte die Partei unter seiner Führung zurückgestellt. Doch das ist nur die halbe Geschichte. Guido Westerwelle ist auch und vor allem an Guido Westerwelle gescheitert. Viele politische Beobachter haben seit dem Auftauchen des blonden, nervösen Mannes mit dem Seitenscheitel gefragt: Welche Inhalte bewegen den JuLi-Vorsitzenden, den FDP-Generalsekretär, später den Parteivorsitzenden und Bundesaußenminister? Dabei geht die Frage ins Leere. Westerwelle stand nie für Inhalte, sondern immer für deren Präsentation.
Der Oberstufenschüler Guido, so erzählte es Jahrzehnte später sein Jahrgangsstufenleiter einem Westerwelle-Biografen, sollte einmal eine Deutschklausur über eine Goetheschrift verfassen. Der Lehrer attestierte seinem Schüler von einst, dieser habe "den Text nicht einmal verstanden, habe sich ohnehin selten detailliert und unvoreingenommen mit einer Sache auseinandergesetzt." Aber: "Schnell habe er sich eine Meinung gebildet und diese dann mit seinem ausgeprägten Mundwerk sehr selbstsicher vertreten." Dieser Charakterzug hat Westerwelles Arbeit geprägt. Er hat zu seinem erstaunlichen Aufstieg beigetragen – und tut es nun auch bei seinem Fall.
Westerwelle ist ein Angreifer. Als der 19-Jährige 1980 den kurz zuvor gegründeten Jungen Liberalen beitritt, kommen unter Gleichaltrigen die Grünen in Mode. Der Sohn eines geschiedenen Anwaltsehepaars – der Vater züchtet nebenher Pferde – verschreibt sich dem Kampf gegen die angeblich blasierten Alternativen, ja gegen den Zeitgeist. Er macht Krawall gegen die vermeintlichen Krawallbrüder. Die Grünen kann er bis heute nicht ausstehen, und ihnen ist er die liebste Hassfigur. Westerwelle wird zum Anti-Grünen. Er muss sich an Gegnern reiben, sie provozieren. So wird der dünne Mann mit der großen Klappe zum perfekten Oppositionspolitiker. Sein Problem ist: Er ist es bis heute geblieben.
Sein Aufstieg bei JuLis und Bundespartei ist steil. Er ist zur rechten Zeit am rechten Ort. Die Bundeshauptstadt heißt Bonn und liegt um die Ecke seines Heimatstädtchens. Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition entgeht der FDP eine ganze Generation politisch interessierter Menschen, die die Hinwendung zu Helmut Kohls CDU als Verrat empfinden. Westerwelle sieht es als Chance. Demonstrativer Optimismus wird sein Erkennungsmerkmal.
Unter Westerwelles Anleitung wird die FDP zur Marke, und er selbst wird es auch. Der beliebte Talkshowgast hat immer eine neue Formulierung parat, eine weitere unterhaltsame Spitze gegen den politischen Gegner. Seine Mitarbeiter müssen ihm jeden Morgen Vorschläge machen, mit denen er es in die Zeitungen vom nächsten Tag schafft. Westerwelle will auftrumpfen, brillieren. Worin, ist zweitrangig.
So kommt es 2002 zur ersten tiefen Führungskrise. Westerwelle, seit einem Jahr Parteivorsitzender, lässt seinen Rivalen Jürgen Möllemann lange Zeit gewähren, als dieser im Bundestagswahlkampf antisemitische Ressentiments anstachelt. Erst als die öffentliche Empörung nach dem Versand einer millionenfach verschickten Broschüre Möllemanns übermächtig wird, zwingt Westerwelle den anderen großen Provokateur zum Einlenken.
Viel ist gemutmaßt worden, was den Arbeitswütigen antreibt. Ist es eine narzisstische Störung, die ihn ständig nach Bestätigung durch äußere Erfolge suchen lässt? Die Angst, dass nur permanente Leistung die eigenen Versagensängste und den Selbsthass in Schach halten kann? Sehnt er sich nach Widerspruch, um nicht das Ausbleiben von Zuneigung und Beachtung fürchten zu müssen?
Die FDP-Fraktion im Bundestag bastelte vor einem Jahr eine Hochglanzbroschüre über ihre Mitglieder. Jeder Abgeordnete hatte zwei Seiten Platz, auch Westerwelle. Auf die vorgegebene Frage "Was macht Sie glücklich?" antworteten die Parlamentarier meist Belangloses wie "Schokolade". Der Vizekanzler und Bundesaußenminister schrieb in runder, fast weicher Handschrift: "Erwiderte Liebe".
Die Angst vorm Scheitern
Diese Liebe hat er nach eigenem Bekunden seit einigen Jahren gefunden. Erst 2004 machte er, der Propagandist individueller Freiheit, seine Homosexualität und seine Beziehung zu einem Veranstaltungsmanager öffentlich. Gelassener hat ihn das nicht gemacht, auch nicht der politische Erfolg. Westerwelle ist und bleibt ein Perfektionist, der Angst vor dem Scheitern hat. Diese Angst sieht man ihm an, sie macht ihn verkrampft selbst im Triumph.
Sein Perfektionismus macht es ihm unmöglich, Niederlagen anzuerkennen. Und die Geschichte der Regierungsbeteiligung seiner Partei ist eine Aneinanderreihung von Niederlagen. Das Gerede von der "spätrömischen Dekadenz", die dem Sozialstaat drohe – da sei er bloß falsch verstanden worden. Das Steuersenkungsversprechen – lediglich verschoben, wenn auch für Jahre. Die neuen Inhalte und Köpfe, die seine FDP wieder wählbar machen sollen – kommt doch, nur nicht jetzt.
"Wir haben verstanden", sagt er seit Wochen immer wieder. Was, sagt er nicht. Den beispiellosen Sieg bei der Bundestagswahl, das wird die taktische Meisterleistung des Parteivorsitzenden Guido Westerwelle bleiben. Zwar waren die 14,6 Prozent für die FDP nur möglich durch vier konkurrierende Parteien, die angesichts der Weltfinanzkrise aneinanderrückten und so Raum ließen für die "Steuersenkungspartei". Zudem profitierte sie von der Furcht weiter Teile der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg. Aber das Ausmaß des FDP-Triumphs – das liegt an Westerwelles Chuzpe. Er setzte allein auf Schwarz-Gelb – und gewann. Guido Westerwelle will Außenminister bleiben. Hans-Dietrich Genscher, den er als sein Vorbild bezeichnet, führte das Außenamt nach dem Rückzug vom Parteivorsitz noch sieben prägende Jahre.
Guido, so erzählte es sein einstiger Jahrgangsstufenleiter dem Westerwelle-Biografen, habe sich ihm gegenüber immer höflich gezeigt. Oft habe der Lehrer das Gespräch gesucht mit Westerwelle, der sich für Kritik empfänglich zeigte. Nur blieben die Versprechen, sich zu bessern, stets Versprechen.
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