Der kleine Tod und das Krähenküken

Noch nie war es so leicht, seine Seele an den Teufel zu verlieren und sich dann von Papi und Mami nach Hause fahren zu lassen: Die finnische Band The Rasmus rettete in der Columbiahalle tausende Berliner Teenagerseelen vor dem Fegefeuer der Pubertät

Bei „First day of my life“ drehen alle schon mal ein kleines bisschen durchEin freundlicher Beelzebub, der solche Boygroups zusammenstellt

von KOLJA MENSING

Gleich wird es passieren. Lauri schlendert gemächlich auf den Bühnenrand zu, lächelt verlegen und hält einen kurzen Moment inne, damit alle noch einmal Luft holen können. Dann sagt er endlich den nächsten Song an: „Not like the other girls“. Erschrecken, Entzücken, Ekstase! In der Columbiahalle gibt es in diesem Augenblick kein einziges Mädchen, das nicht etwas Besonderes wäre. Zahnspangen funkeln im tanzenden Scheinwerferlicht, Fünftklässlerinnen flüchten sich in die Arme ihrer Mütter, Abiturientinnen tasten im Halbdunkel verzweifelt nach der nass geschwitzten Hand ihrer Freundin.

Lauri Johannes Ylönen, 24 und von Beruf Popstar, hat derweil noch nicht einmal mit der ersten Strophe angefangen. Lässig wirft er seine Wasserflasche ins Publikum, und als ein paar Minuten später während eines Gitarrensolos das Handtuch, mit dem er sich gerade noch das Gesicht abgetrocknet hat, den gleichen Weg nimmt, müssen die Ordner die ersten ohnmächtigen Fünfzehnjährigen über die Absperrgitter heben. „She’s fading away, away from this world“, singt Lauri und kniet am Bühnenrand: „She’s not like the other girls“.

Das also sind The Rasmus aus Helsinki, die ein paar Wochen nach ihrem ausverkauften Konzert noch einmal nach Berlin gekommen sind, um auch die letzte Teenagerseele aus dem Fegefeuer der Pubertät zu retten. Und sie haben es leicht damit. Ihre Fans haben an den langen, dunklen Herbsttagen jeden Song der aktuellen CD „Dead Letters“ auswendig gelernt. Sie haben das Frühwerk der gar nicht mehr so neuen Band durchgearbeitet, sich in den einschlägigen Internetforen darauf geeinigt, dass Lauris natürliche Haarfarbe „dunkelbraun“ ist („früher blond, schwarz und auch lila gefärbt“) und ihm zuletzt auch noch großzügig verziehen, dass er am Rande seines Auftritts bei „Top of the Pops“ mit Jeanette Biedermann geflirtet hat. „Are you ready to rock?“ – das ist sicherlich die überflüssigste Frage, die an diesem Abend gestellt wird. Während einige Eltern zusammen mit einigen gelangweilten Angestellten der finnischen Botschaft etwas verloren am Rand stehen, wissen alle anderen, die sich hier versammelt haben und gleich zu Beginn bei „First day of my life“ schon mal ein bisschen durchdrehen, dass genau jetzt ihr Leben anfängt.

„Are you ready to die?“ – sicher, den kleinen Tod würden sie jetzt alle sterben. Mehr allerdings ist nicht drin. Nur ein paar bleich geschminkte Berufsschülerinnen in dunkler Corsage und vereinzelte, schüchtern in Richtung Bühne gereckte Satansfäustchen verraten, dass The Rasmus mit ihrem auf Minimalkonsens ausgerichteten Powerpop auch die dunkleren Abteilungen der Jugendkultur bedienen. Die Traditionslinie, in die sich die finnische Band mit ihrem melancholischen Image, ein paar todesverliebten Balladen und breit geklopften und stumpf geschlagenen Gitarrenriffs einreiht, ist im Übrigen ohnehin nur noch schwer auszumachen. Was einst mit einer Band wie Black Sabbath angefangen hat und Anfang der Achtziger von Venom auf den Begriff „Black Metal“ gebracht wurde, sich als Gegenkultur später mit Gothic und Dark Wave verbündete und wieder zerstritt, löste sich nach Meinung einschlägiger Experten nämlich bereits vor zehn Jahren im „New Wave of Swedish Death Metal“ mehr oder weniger in Wohlgefallen auf. Bands wie The Rasmus oder die ebenfalls aus Finnland stammenden Him destillieren aus den Überresten dieser heute nur noch zu erahnenden Bewegung nun einen nach allen Seiten hin offenen Brachialsound, halten sich mit schwarzer Kleidung und Silberschmuck an den längst zur Massenmode gewordenen Gothic-Schick und erzählen im Bravo-Interview, dass sie sich jedesmal erst ein paar Horrorvideos anschauen müssen, bevor sie ein richtig schauriges Lied schreiben können.

Es muss schon ein freundlicher Beelzebub sein, der solche Boygroups zusammenstellt. Lauri Ylönen von The Rasmus auf jeden Fall gleicht an diesem Abend mit seinen schwarzen Federn, die er sich in die kunstvoll zerzausten Haare gesteckt hat, eher einem Krähenküken als einem ausgewachsenen Nachtvogel, und auf seine schmächtigen Schultern hat er sich auch nicht Ozzy Osborne oder Aleister Crowley tätowieren lassen, sondern Björk. Er bedankt sich brav für den Applaus, ignoriert züchtig den samtroten Slip, der plötzlich auf die Bühne fliegt, und als er in der Mitte der Show eine Zigarettenpause einlegt, bläst er den Rauch rücksichtsvoll in die Luft und nicht in die engelhaften Gesichter seiner Fans. Was auch immer man am Niedergang der guten alten Subkulturen auszusetzen hat: Es war sicherlich noch nie so leicht wie heute, seine Seele an den Teufel zu verlieren – und sich anschließend ohne jedes schlechte Gewissen von Mama und Papa, die draußen vor der Columbiahalle geduldig im Familienwagen warten, nach Hause fahren zu lassen.