: Der große Brain-Drain
Erstmals werden in einem Sammelband die Schicksale der russischen Emigration nach der Oktoberrevolution in den großen Metropolen des Westens zusammengetragen ■ Von Christian Semler
Auf einem der russischen Revolutionsplakate, die vor nicht all zu langer Zeit die Arbeitszimmer der Linken schmückten, sieht man vier kleine Wichte, die konterrevolutionären Generale Koltschak, Judenitsch, Wrangel und Denikin auf heilloser Flucht in alle vier Himmelsrichtungen. Aber die siegreiche Sowjetmacht vertreibt nicht nur weißgardistische Militärmachthaber, Hofdamen am Zarenhof und psalmodierende Popen. Den geschlagenen Armeen folgen rund 1,5 Millionen Flüchtlinge. Kaum eine europäische Metropole, die in der Zwischenkriegszeit nicht ihre russische Kolonie gehabt hätte. Aus Lubitschs wunderbarer Komödie „Ninotschka“ kennen wir das Feinschmeckerlokal in Istanbul, das konvertierte bolschewistische Emissäre eröffneten. Der taxifahrende Gardeoffizier auf dem in Nepski-Prospekt umbenannten Ku'damm, die Großfürstin, die eine Nähstube in Charlottengrad unterhält – Ingredienzien des Mythos vom russischen Berlin der zwanziger und frühen dreißiger Jahre.
Karl Schlögel, Topograph der russischen Verhältnisse, ein Wissenschaftler, der nicht nur zu forschen, sondern auch zu schreiben versteht, ist nicht erst seit gestern dem großen russischen Exodus auf der Spur. Sei es, als er Igor Bely edierte, sei es gelegentlich der Neuauflage von Masaryks großer, vergessener „Russischer Geistes- und Religionsgeschichte“, sei es in seiner Ausgabe der „Wegzeichen“, überall begegnen wir bei ihm den Gestalten, die nach 1917 als Mahner, Propheten und/oder Phantasten Europa durchstreiften. 1992 hat Schlögel an der Uni Konstanz das Projekt „Russische Emigration in Deutschland in der Zwischenkriegszeit“ ins Leben gerufen. Jetzt legt er einen Sammelband vor, in dem 16 Wissenschaftler den Schicksalen der Emigration in 14 Hauptstädten des Westens nachgehen.
Die Zeit ist einem solchen Unternehmen günstig. Die Archive der Sicherheitsdienste und der Fremdenpolizei, aber auch die Materialien der Emigrationsgruppen, die lange nicht zugänglich waren, stehen jetzt der Forschung offen. Das allzu einfache Interpretationsschema, wonach es hauptsächlich die Parasiten des Zarenregimes, die „weißgardistischen Schweinehunde“ waren, die ihr Heil in Flucht und Emigration suchten, hat ausgedient. Freilich glich die Emigration, wie Schlögel schreibt, einer auf den Kopf gestellten Pyramide, der zudem die Basis wegbrach. Aber war es nicht der Brain- Drain der Tausenden von Wissenschaftlern, Ärzten und Technikern, der den Aufbau „ziviler Strukturen“ in der Sowjetunion der NEP-Zeit verhinderte und der dann später der Parteilichkeit der „Sowjetwissenschaft“ zu einem so leichten Sieg verhalf?
Schlögel hat seine Autoren gebeten, der wenngleich zeitweiligen Verwurzelung der Emigration in den jeweiligen Metropolen nachzugehen. Wie nicht anders zu erwarten, finden wir neben braven Aufzählungen der russischen Schulen, Krankenhäuser, Publikationsorgane etc. auch viel genuine, spannend zu lesende Forschungsarbeit. Etwa Kowalczyks Aufsatz über Warschau, wo wir ein weiteres Mal dem düsteren Anarcho- Terroristen Boris Savinkov begegnen, Tesemnikovs Studie über die russische Emigration in Jugoslawien oder – ein unvermutetes Terrain – das Exil in Mussolinis Italien, rekonstruiert von Claudia Scandura.
Der Herausgeber selbst schreibt über das „russische Berlin“. Hier hat Fritz Mierau mit seiner 1987 in der DDR erschienenen Anthologie „Russen in Berlin“ eine einfühlsame und für die damalige Zeit ziemlich mutige Vorarbeit geleistet. In seinem eigenen Aufsatz verklärt Schlögel den russischen Mikrokosmos Berlin genau so wenig, wie es die Emigranten damals selbst taten. Weder verschweigt er die Querverbindungen, die von Anfang an zwischen der russischen und deutschen rechtsradikalen Szene bestanden, noch übergeht er den bedeutenden Beitrag, den die menschewistische Emigration für die (links-)sozialdemokratische Arbeiterbewegung geleistet hat. Schlögel gelingt es, das Einzigartige dieses „Begegnungsortes“ zu evozieren: die offene Auseinandersetzung zwischen „Weiß“ und „Rot“, die durch die Nähe zum Kampfplatz Rußland und die Verschwisterung der Emigration mit den deutschen Bürgerkriegsparteien aufs äußerste gesteigerten Emotionen – aber auch der Dialog zwischen den Todfeinden.
Klar, daß dieses Buch nur Auftakt sein kann, ein Versprechen, das künftige Arbeit einlösen muß. Vieles fehlt. Besonders bedauerlich der Verzicht, irgend etwas Substantielles über die zweite große Emigration nach 1945 beizutragen. Also nicht mehr Berlin, sondern München (Pullach), Tel Aviv und, ein weiteres Mal, New York. Wir warten (bestimmt nicht vergeblich) auf Fortsetzung.
Karl Schlögel: „Der große Exodus. Russische Emigration und ihre Zentren 1917-1941“. C.H. Beck, München 1994, 448 Seiten, 78 DM
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